Will Frau S. noch leben?

Die Medizin kann das Ende hinauszögern: etwa durch künstliche Ernährung und Beatmung. Eigentlich hätte jeder Patient darüber mitzureden. Aber wenn er das nicht mehr kann? Dann müsen andere für ihn sprechen. Drei Fälle aus der Grauzone zwischen Leben und Tod.
Freiburg, ein Pflegeheim der Luxusklasse. In einem Zimmer liegt Franziska Salver* (* Der Name und einige Details sind von der Redaktion geändert), 68, ehemals Oberärztin, und starrt an die Decke. Vor kurzem noch eilte sie über die Gänge des Uniklinikums. "Eine Ärztin aus Berufung", sagt ihr früherer Chef, "sie hatte ein Fingerspitzengefühl für Patienten, wie man es selten sieht; jeder wusste: Sie wird nichts tun, was man nicht will".
jetzt ist sie selbst Patientin, seit einem Schlaganfall vor vier Jahren. Eine Ernährungssonde führt durch ihre Bauchdecke direkt in den Magen. Das sei nur vorübergehend, wegen der Schluckstörung, hatten die Ärzte versprochen. Franziska Salver stimmte widerstrebend zu. Doch dann erlitt sie auch noch eine Hirnblutung. Anfangs zerrte sie mit der einen nicht gelähmten Hand an der Sonde; jetzt ist sie völlig apathisch. Die "schwere geistige Behinderung" sei mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhaft, sagen die Neurologen. "Sie kann nicht mal Töne von sich geben oder sich sonst wie verständlich machen", erzählt ihr früherer Chef, der sie regelmäßig besucht. "Sie kann nur Abwehr signalisieren. Mit dem Wegdrehen des Kopfes. Und manchmal laufen ihr die Tränen. Aber man hört nichts. Es ist so schrecklich."
Dabei hat Frau Salver vorgesorgt. Für den Fall, dass sie sich nicht äußern kann, hat sie in einer Patientenverfügung aufgeschrieben, wann sie keine lebenserhaltende Behandlung mehr will. Und sie hat, nach dem Tod ihres Mannes, ihre beste Freundin bevollmächtigt, diesen ihren Willen auch durchzusetzen. Nur - die Freundin hoffte immer, dass es doch noch besser wird mit Franziska Salver. Jetzt bricht sie unter der Last der Verantwortung fast zusammen.
Sterbehilfe
Schließlich schreiben die Pflegeschwestern einen Brief an die Freundin: Frau Salver wehre sich gegen jede Pflege, sie wende zum Beispiel den Kopf ständig ab, wenn man ihr das Gesicht waschen wolle. Auch beim Streicheln ziehe sie sich zurück. "Wir haben den bestimmten Eindruck, dass Frau Salver keine medizinischen und pflegerischen Maßnahmen wünscht." Ob man jetzt nicht der Patientenverfügung folgen müsse?
In ihrer Gewissensnot wendet sich die Freundin an die Uniklinik Freiburg. Dort wurde jüngst ein Ethik-Komitee eingerichtet - wie an rund 100 anderen, vor allem kirchlichen Krankenhäusern. Diese Komitees beraten Ärzte und Angehörige bei schwierigen moralischen Entscheidungen.
Die Freundin möchte wissen: Darf man bei Frau Salver die künstliche Ernährung beenden? Wenn der Kranke eine Behandlung nicht will, dann darf man sie nicht nur beenden, dann muss man das sogar, sagt Giovanni Maio, Medizinethiker im Freiburger Ethik-Komitee. Denn der Arzt bekommt den Behandlungsauftrag nicht von der Krankheit, sondern vom Patienten. Die Frage ist also, was Franziska Salver will. Gemeinsam mit einem Juristen und einem Theologen schaut sich Maio die Patientenverfügung an. Frau Salver hat geschrieben: "Ich will nicht, dass mein Leben um jeden Preis verlängert wird. Die Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen hat insbesondere dann zu unterbleiben, wenn
  • nach menschlichem Ermessen ein Sterbeprozess eingetreten ist,
  • eine geringe Aussicht besteht, dass ich mein Bewusstsein wiedererlange,
  • die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass ich eine schwere Dauerschädigung meines Gehirns davontrage, die mir ein menschenwürdiges Dasein nicht mehr erlaubt."
Die Experten runzeln die Stirn, denn eigentlich sind die Bedingungen, die Frau Salver nennt, nicht erfüllt: Weder liegt sie im Sterben, noch ist sie ohne Bewusstsein. Sicher, sie hat eine "schwere Dauerschädigung" des Gehirns, aber erlaubt die ihr tatsächlich kein menschenwürdiges Dasein? Was lebenswert ist, darüber hat jeder eine andere Meinung. Was also meint Frau Salver mit "menschenwürdigem Dasein"? Das hat sie nicht aufgeschrieben.
Da hilft nur eins: Zeugen befragen. Ihr früherer Chef und Freund erzählt, wie oft sie auf dem Krankenhausflur nach einer Visite gesagt habe, so wie dieser oder jener Patient wolle sie nicht enden. Damit meinte sie nicht nur die Komapatienten. Schon dass jemand nicht mehr mit den Mitmenschen kommunizieren konnte, fand sie unerträglich. "Und nun konnte sie sich selber schon fast vier Jahre überhaupt nicht mehr äußern, erlebte aber alles - das ist entsetzlich für so eine intelligente und willensstarke Person", sagt der frühere Chef. Schließlich sind alle überzeugt: Franziska Salver hält genau diesen Zustand, in dem sie jetzt ist, für menschenunwürdig. Obwohl sie kompetent und liebevoll gepflegt wird, obwohl sie viel Besuch bekommt, obwohl sie keine Schmerzen hat.
Auf Rat des Ethik-Komitees wendet sich die Freundin noch an das Vormundschaftsgericht. Der Richter soll überprüfen, ob die Entscheidung der Patientenvertreterin tatsächlich dem aktuellen Wunsch der Patientin entspricht. Das Betreuungsgesetz schreibt das seit 1999 vor. Der Richter aber ist offensichtlich überfordert. Er lässt die Sache ein halbes fahr auf dem Tisch liegen, gibt ein weiteres ärztliches Gutachten in Auftrag, besucht die Patientin zwei Mal - sie reagiert bei der "Anhörung" nur mit "lautem Zähneknirschen". Schließlich gibt der Richter dem Antrag der Freundin statt: die Kalorienzufuhr allmählich zu verringern und nur noch Flüssigkeit zu geben.
Sechs Wochen später ist Franziska Salver gestorben. Weil sie es so gewollt hat.

Frankfurt am Main, ein Seminarraum der Universität. Wenn Kurt Schmidt den Projektor anknipst, wissen die Medizinstudenten: jetzt kommt wieder so ein schwieriger Fall! Aber eben dafür, dass sie lernen, was in diesem individuellen Fall das Richtige, das Gute ist, sitzen sie im Seminar des Theologen und Ethikers Schmidt.
Diesmal sollen sie gemeinsam mit einem erfahrenen Arzt über einen 41-Jährigen beraten, der vor acht Monaten einen schweren Motorradunfall hatte. Weil er ohne Helm fuhr, zog er sich dabei schwere Kopfverletzungen zu. Seitdem ist er nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Er wird künstlich beatmet und über eine Sonde ernährt. Zwei Neurologen haben nun diagnostiziert: Der Mann werde nie wieder aufwachen, möglich sei aber, dass er bald wieder selbständig atmen könne.
"Nun kommt die Ehefrau zu Ihnen ins Arztzimmer", beschreibt Schmidt die Szene weiter. Erst hatte sie große Hoffnung, dann quälte sie sich damit, dass ihr Mann nie mehr "wie früher" sein würde, jetzt scheint sie Abschied genommen zu haben. "Das ist doch ein unwürdiger Zustand, die Ernährung sollte eingestellt werden, lassen Sie ihn sterben!", sagt sie zu den Ärzten. Die Studenten fühlen sich unwohl, bedrängt. Schließlich rafft sich einer auf: "Irgendwie hat die Ehefrau Recht. Ich finde auch, dass das jetzt unwürdig ist."
"Ich kann die Frau zwar verstehen", wirft eine Kommilitonin ein, "aber als Ärztin muss ich fragen: Hält der Patient selbst sein jetziges Leben für unwürdig?" Kurt Schmidt freut sich über diese Antwort. Genau, man darf nicht seine eigenen Vorstellungen von Lebensqualität auf andere Menschen übertragen.
Allerdings darf der Patient auch nicht gegen seinen Willen, also zwangstherapiert werden. Bloß, den verunfallten Motorradfahrer kann man nicht mehr fragen. Aber die Ehefrau, sagt ein Student, die kann doch für ihren Mann sprechen! Nein, rechtlich gesehen nicht, erklärt Medizinethiker Schmidt, denn ihr Mann hat ihr hierfür keine Vollmacht gegeben. Eine Patientenverfügung über seine medizinischen Wünsche hat er erst recht nicht verfasst.
Patientenverfügung
Aber vielleicht lässt sich aus vielen Hinweisen ein "mutmaßlicher Wille" ablesen? Der Ehefrau fällt ein, wie ihr Mann mal, als sie gemeinsam eine Fernsehdokumentation über Komapatienten anguckten, ausrief, dass das ja ganz furchtbar sei - "das ist doch kein Leben mehr!" Hilft diese Aussage weiter? Ist solch eine einzelne, spontane Reaktion Beweis genug, dass er selbst jetzt nicht mehr künstlich ernährt werden will? Die Studenten zweifeln. Für viele sieht es in diesem Fall nicht nach einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Thema aus. Und so gilt die Maxime: In dubio pro vita.
Im Zweifel für das Leben. Das ist keine Drohung. Viele Menschen wünschen sich das, weil sie zum Beispiel glauben, dass Gott schon dafür sorgen wird, dass sie ihr Leben zum gegebenen Zeitpunkt richtig abschließen. Oder weil sie einfach so gern auf der Welt sind, egal in welchem Zustand. Man bat Nierenkranke, die täglich zur Dialyse an die Maschine müssen, also Erfahrung mit Krankheit und Medizintechnik haben, sich folgendes Szenario vorzustellen: Sie müssten beatmet und - um den Schlauch in der Kehle überhaupt auszuhalten - medikamentös ruhig gestellt werden; nun bekämen sie obendrein noch eine Lungenentzündung... Die meisten sagten, dann solle es gut sein; doch eine beträchtliche Zahl meinte: Her mit den Antibiotika.

Stuttgart, beste Hanglage, evangelisches Hospiz. Konrad Beermann* (* Der Name und einige Details sind von der Redaktion geändert) wusste, was er wollte. Genauer: Er schien es noch zu wissen, als er die alte Villa mit den sanft knarrenden Dielenböden und duftigen orange Vorhängen betrat. Der 70-Jährige hatte wegen seines Prostatakrebses bereits eine Operation und mehrere Chemotherapien hinter sich; jetzt reichte es ihm. Die Knochenmetastasen machten ihm teuflische Schmerzen, die bisherige Schmerzmedikation reichte hinten und vorne nicht. Entsprechend schlecht gelaunt saß er beim Aufnahmegespräch vor Christoph Student, Palliativmediziner und Leiter des Hospizes.
"Wenn ich nichts mehr selbst regeln kann, dann will ich getötet werden, gebt mir eine Tablette", forderte Beermann. "Wir töten hier niemanden, aber lassen Sie uns doch den Weg gemeinsam gehen", wurde ihm geantwortet. "Das befriedigte ihn natürlich nicht", erinnert sich Christoph Student und muss ein bisschen lachen. Nein, sympathisch war ihm der Mann, einst ein hoher Regierungsbeamter, anfangs überhaupt nicht. Herr Beermann hatte so was Herrisches. Dass über ihn verfügt werden könnte - unvorstellbar. Wie wenn eine Sekretärin ihm hätte sagen dürfen, wo's langgeht.
Doch je schwächer der Mann wurde, desto mehr schwand sein Verlangen nach Sterbehilfe. "Wie wenn es Klick gemacht hätte in seinem Kopf", meint der Hospizleiter. Beermann begriff: Er musste gar nicht mehr der Boss sein und alles "selbst regeln", damit man ihn und seine Wünsche respektierte. Selbst als er später eine Windel brauchte, verlor er dadurch nicht an Kontrolle über die Situation und an Würde. Die Windel wurde gewechselt, so oft oder so selten, wie er wollte.
"Es hat mich sehr berührt, dass er das Versorgtwerden genießen konnte", sagt Student. "Er hatte was von einer schnurrenden Katze. Nachdem er sich ein Leben lang geschunden hatte. Bestimmen ist ja auch eine Schinderei." Auch den Angehörigen kam Konrad Beermann, dem man früher eigentlich nie was hatte recht machen können, wie verwandelt vor: Als gehe es ihm zum ersten Mal in seinem Leben richtig gut.
"Ich will nicht zur Last fallen"
Wegen der Krebsabsiedlungen im Gehirn konnte sich Konrad Beermann da schon nicht mehr verständlich äußern. Die Phasen des Dämmerns wurden immer länger. Essen mochte er nicht mehr. Anfangs bot man ihm flüssige Nahrung an, gab das dann auf. Eine Ernährungssonde legte man nicht. "Wir tun nichts, was das Sterben beschleunigt, aber auch nichts, was es verzögert", sagt Christoph Student. "Wir mischen uns nicht ein ins Sterben. Dadurch wird es ruhiger."
Aber darf man jemanden verhungern und verdursten lassen? Ja, sagt die Hospizbewegung, wenn der Kranke zu wachen Zeiten nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet hat und jetzt im Sterben liegt. So sind die Menschen früher immer gestorben, so sterben sie auch noch heute zu Hause. Sie dämmern allmählich weg, da könne man doch nicht gewaltsam Essen und Trinken zuführen! Zumal zwei Liter Flüssigkeit den Kreislauf eines Sterbenden stark belasten.
"Das langsame Austrocknen bei Schwerkranken ist durchaus nicht unangenehm", sagt der Palliativmediziner Student. Man kraucht ja nicht unter sengender Sonne durch die Wüste, sondern liegt gut gepflegt im Bett. Unangenehm sind nur trockene Schleimhäute. Deswegen befeuchtet man die Mundhöhle mit angenehmen Getränken, und seien es Bier oder Weinschorle. "Und wenn der Patient dann anfängt an der Watte zu saugen, weiß man, er hat gerade Durst, dann kriegt er mehr Flüssigkeit - er wird nicht aufgefüllt, sondern kriegt genau die Menge, die das Sterben erleichtert."
Basispflege heißt das. Dazu gehört, wie es die Bundesärztekammer in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung salomonisch formuliert hat, das Stillen von Hunger- und Durstgefühlen, nicht aber die zwangsweise hochkalorische Ernährung und das Auffüllen mit zwei Liter Wasser. Schließlich hat jeder das Recht, natürlich zu sterben. Doch bei einer Befragung in Rheinland-Pfalz hielt nur ein Drittel der Ärzte die Einstellung der künstlichen Flüssigkeitszufuhr bei Sterbenden für erlaubt.
Konrad Beermann hat vier Wochen im Hospiz gelebt. Manchmal saugte er noch an dem feuchten Wattebausch, dann vertiefte sich die Bewusstlosigkeit. Irgendwann hörte er auf zu atmen.
Mehr Informationen zu Patientenverfügungen, passiver Sterbehilfe, Ethik-Komitees, Sterben zu Hause finden Sie in einem umfangreichen Internet-Dossier unter www.chrismon.de
Christine Holch