Wie viel Hoffnung bleibt uns?

Eines ihrer letzten Gespräche - über Krieg, Krankheit und Lebensfreude - führte Regine Hildebrandt mit Jörg Zink

REGINE HILDEBRANDT war von 1990 bis 1999 Sozialministerin in Brandenburg. Bis zuletzt erlebte man die SPD-Politikerin als engagierte Verteidigerin des Sozialstaats. Selbst schwer erkrankt, setzte sie sich für eine gute Betreuung von Kranken und Sterbenden ein. Ein Hospiz trägt seit kurzem ihren Namen. Sie starb am 27. November 2001 im Kreise ihrer Familie an einem Krebsleiden. Dieses Gespräch wurde am 19, Oktober geführt.
JÖRG ZINK, 79, ist Pfarrer und Bestsellerautor. Wie nur wenige versteht er es, biblische Weisheit ins heutige Leben zu übersetzen. Bis 1990 sprach er mehr als 100-mal das Wort zum Sonntag in der ARD. Er engagierte sich in der Friedens- und Umweltbewegung und gehört zu den Vorreitern des interreligiösen Dialogs.
R. Hildebrandt im Gespräch mit J. Zink
CHRISMON: Sie wohnen sehr idyllisch hier, Frau Hildebrandt.
REGINE HILDEBRANDT: Das hier war, das muss ich gestehen, immer mein Traum. Unsere Kleindatsche hat sich nach der Wende zum Wohnsitz verwandelt...
CHRISMON: ...zum Mehrgenerationenhaus.
HILDEBRANDT: Ich bin halt so ein Familienmensch. Ich hab nach 1945 erlebt, wie in der Familie meines Vaters sich alle gegenseitig geholfen haben, damit man über die schlechte Zeit rüberkam. Die Generationen zusammen, das ist immer noch mein Ideal von Zusammenleben.
CHRISMON: Brauchen Sie auch alle um sich, Herr Zink?
JÖRG ZINK: Nein. Ich fühle mich am wohlsten etwas abseits von der bösen Welt, allein mit meiner Frau.
HILDEBRANDT: Sie dürfen nicht denken, dass sich hier alle von morgens bis abends herzten. Meine älteste Tochter war sogar eher eine Familienflüchterin. Deshalb hatte ich mir den Gedanken vom Mehrgenerationenhaus schon abgeschminkt. Da gab meine Krebserkrankung 1996 den Ausschlag, dass meine Tochter, die Familienflüchterin, gesagt hat: Wenn Mutter jetzt möglicherweise nur noch begrenzt zu leben hat, dann soll sie in der Zeit die Enkelkinder um sich herum haben.
DER PESSIMIST: "Diese Generation lebt in einer Welt,
die nicht mehr die meine ist"
CHRISMON: Sie sind beide in einem besonderen Lebensabschnitt, der bei Ihnen, Frau Hildebrandt, durch Krankheit beeinflusst ist, während Sie, Herr Zink, von der Zeit "am Ende meines Lebens" sprechen. Was wird da wichtig?
HILDEBRANDT: Mir waren immer die gleichen Sachen wichtig. Zu DDR-Zeiten habe ich versucht, so zu leben, wie ich es für richtig hielt: mit den Säulen Beruf, Familie, Freunde, Domkantorei. Ich hatte ja in der Diabetikerbetreuung eine sinnvolle Arbeit gefunden. Mir war immer Mitmenschlichkeit wichtig. Das hat sich nach der Wende sogar verstärkt, weil Massenarbeitslosigkeit und die Veränderung der sozialen Verhältnisse die Menschen extrem verunsichert haben. Mein Leben ist eng verbunden mit dem Beruf, mit dem Zusammensein mit der Familie, auch mit dem Versuch, etwas auszustrahlen und etwas zu bewegen. Das lasse ich mir auch jetzt nicht abschneiden. Entscheidend ist nicht die Länge des Lebens, sondern dass man sein Leben weiterführen kann, so wie man es für richtig hält.
ZINK: Bei mir setzt sich alles, was ich früher einmal gemacht habe, im Alter fort. Ich habe noch die gleichen politischen Überzeugungen, die gleichen Absichten wie früher. Es ist nur so: Wenn ich heute schreibe, dann denke ich an meine Altersgenossen. Den jungen Leuten habe ich nichts mehr zu sagen. Diese Generation lebt in einer Welt, die nicht mehr die meine ist. Und was den Tod betrifft: An der Grenze des Todes war ich schon so oft, dass mir der Gedanke daran nicht schwierig erscheinen wird. Im letzten Krieg war ich Flieger, und von 400 Mann meines Geschwaders sind gerade drei übrig geblieben. Ich kann mich sehr gut hineindenken in Leute, die an der Grenze stehen.
CHRISMON: Viele Menschen haben heute wieder Angst vor der Zukunft. Wie erleben Sie die aktuelle Situation?
DIE OPTIMISTIN: "Unsere Sicherheit hängt davon ab,
ob die Armen eine Zukunft haben"
ZINK: Es reizt mich, uns Westlern zu erklären, woher der Hass kommt. Die Gründe werden bei uns nirgends diskutiert. Dort sitzen die Bösen, und die Amerikaner sind die Unschuldslämmer, denen etwas Widerwärtiges passiert - das ist eine völlig falsche Weltanschauung. Ich habe beobachtet, wie eine lebensfähige Wüstenkultur durch den Einfluss des Westens kaputtgeht. Vor fast 30 Jahren hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Auf dem Weg von Bagdad nach Basra sah ich an der Straße einen Brunnen. Da habe ich meine Flaschen gefüllt. Zwei Jahre später war der Brunnen eingeebnet. Statt seiner stand eine Blechhütte da, in der Schweppes verkauft wurde. Dem Wüstenbewohner aber gilt das Recht auf Wasser als eines der Grundrechte eines Menschen.
HILDEBRANDT: Die Frage ist bloß, ob das Wasser noch da gewesen wäre oder eventuell inzwischen versiegt ist.
ZINK: Das Wasser war da. Es war Grundwasser, das aus dem Tigris kam. Wir müssen uns klar machen, wie solche Eingriffe auf diese Menschen wirken. Dann versteht man auch, dass Ayatollah Khomeini mit seiner Revolution in Persien die Notbremse ziehen und den Zerfall sämtlicher Familien- und Stammesstrukturen verhindern wollte und dass er deshalb gesagt hat: Wir brauchen einen ganz strengen Islam.
HILDEBRANDT: Der wird aber nicht weiterhelfen. Gucken Sie sich doch die Bevölkerungszahlen an! Wir haben eine Bevölkerungsexplosion mit dem Ergebnis, dass die traditionellen Methoden des Wirtschaftens nicht mehr funktionieren, weil viel mehr Menschen ernährt werden müssen als früher.
ZINK: Aber seit wann explodieren die Bevölkerungszahlen? Als ich zum ersten Mal nach Kairo kam, lebten dort vier bis fünf Millionen Menschen. Fünf fahre später waren es 13 Millionen. Die Landflucht, die durch den Bau des Assuan-Staudamms ausgelöst war, hat dieses Wachstum hervorgebracht.
HILDEBRANDT: Moderne westliche Methoden können sehr wohl weiterbringen. Israel zeigt, was man aus Wüste machen kann, wenn man sie bewässert.
ZINK: Trotzdem: Das ganze Unglück hat mit der Kolonialzeit angefangen. Die brachte die technischen Möglichkeiten, ein vermeintlich besseres Leben zu führen.
HILDEBRANDT: Schuld sind aber nicht nur Amerikaner und Europäer. Die Politiker in den Regionen tragen selber ihren Teil bei. Auf arabischer Seite sorgt man zum Beispiel nicht dafür, dass die Palästinenser aus den Flüchtlingslagern herauskommen und ein normales Leben führen können, sondern man schafft bewusst extreme Krisensituationen.
CHRISMON: Herr Zink, was Sie sagen klingt, als ob Sie für unsere Welt praktisch keine Chance mehr sähen.
ZINK: Eigentlich bin ich ja von Haus aus Optimist...
HILDEBRANDT: Das bin ich auch! Da sind wir uns einig!
ZINK: ... aber das hat sich bei mir geändert. Ich sehe keine Möglichkeit, diese Welt vor irgendeiner Katastrophe zu schützen. Was die Umwelt betrifft, weiß man längst, was geschehen muss. Aber dann braucht bloß ein amerikanischer Präsident kommen, der sich dem Umweltschutz verweigert, und alles Wissen gilt nichts mehr. In den 70er Jahren glaubten wir in der Friedensbewegung, Kriege ließen sich abschaffen. Aber es wird Kriege geben, von deren Grausamkeit und Barbarei wir uns gar keine Vorstellung machen. Und ich weiß nicht, wie man sie verhindert. Eigentlich tun mir die jungen Leute Leid, die heute leben.
HILDEBRANDT: Da bin ich nun sehr verblüfft. Ich glaube, mit dem 11. September hat sich wirklich etwas verändert. Wir im Westen merken, dass unsere Sicherheit, unser Leben davon abhängig ist, dass die Menschen in der Dritten Welt auch eine Perspektive haben. Das ist für mich ein Quantensprung an Einsicht in dieser egoistischen Welt. Auf einmal ist es möglich, dass die USA ihre Schulden bei der UNO bezahlen und dass sie Pakistan weitgehend entschulden. Auf einmal kann man dubiose Konten kontrollieren. Sie sind zu pessimistisch, Herr Zink!
DER PESSIMIST: "Eigentlich tun mir die jungen
Leute leid, die heute leben"

ZINK: So einfach lässt sich das grundsätzliche Problem dieser Länder nicht lösen. Die Menschen in der arabischen Welt, zum Beispiel in Saudi-Arabien, empfinden schon unsere Anwesenheit in ihrem Land als Beleidigung. Selbst wenn die Amerikaner mit Fresspaketen kommen, ist ihre Anwesenheit unerwünscht, ja eine Beleidigung, an der man in diesen Ländern nur zum Terroristen werden kann.
HILDEBRANDT: Es gibt für junge Leute in diesen Ländern andere Möglichkeiten, die Probleme zu lösen. Zum Beispiel indem sie etwas lernen. Dabei kann der Westen helfen, indem man auch hierzulande Ausbildungs- und Studienplätze für junge Leute aus Drittweltländern schafft und sie mit ihren Kenntnissen später in ihre Länder zurückschickt.
ZINK: Ich beneide Sie um Ihren Optimismus.
CHRISMON: Herr Zink, Sie sagten kürzlich, Sie wären gern als Indianer geboren. Wie haben Sie das gemeint?
HILDEBRANDT: Ach du liebe Zeit! Haben Sie das wirklich gesagt?
ZINK: Ja, ich habe die indianischen Religionen immer sehr geliebt. Ich habe ein sehr unmittelbares Verhältnis zu allem, was lebt und wächst. Ich leide ungeheuer unter allem, was kaputtgemacht, steril gemacht und zerstört wird. Unser Christentum ist am Zustand unserer Welt nicht unschuldig. Wir haben uns in unsere Herrscherrolle verliebt, wir beherrschen den Garten Gottes, wir forschen darin, und am Ende stehen wir vor dem Trümmerhaufen unserer Produkte. Die andere Art der Indianer, mit den Dingen dieser Erde umzugehen, hätte mich gelockt.
HILDEBRANDT: Wir können heute aber nicht mehr so leben wie die Indianer vor 200 Jahren.
ZINK: Natürlich nicht. Ich werde immer Christ sein. Aber man darf ja ein bisschen träumen. Ich fühle mich den islamischen Sufis verwandt, manchen Hindus. Ich möchte mit den Zen-Meistern zusammensitzen. Ich möchte das Ganze des religiösen Bewusstseins der Menschheit verstehen.
HILDEBRANDT: Mich interessieren andere Religionen auch. Aber entscheidend ist für mich, wie ich als Christ geprägt bin. Mein Schwiegervater war ein richtiger ostpreußischer Pfarrer, der gegen Fußball am Sonntagvormittag gewettert hat und dagegen, dass man bei der Konfirmation nur aufs Äußere achtet. Wir sind Sonnabendabend im Dunkeln konfirmiert worden, damit wir uns wirklich aufs Abendmahl konzentrieren konnten und auf die Wortverkündigung. Wir bekamen eine klare Orientierung. Diese Prägung hat bei mir gehalten. Zu DDR-Zeiten war für mich klar: Du machst hier keine Kompromisse, also ist eine Karriere nicht drin. Beliebigkeit ist für mich schlimm.
CHRISMON: An was soll man sich also halten?
ZINK: Das Zentrale am Christentum ist für mich die Auferstehung. Die Zusage, wenn du stirbst, dann kommst du nach Hause. Das nehme ich so, wie es gesagt ist. Warum soll ich das nicht annehmen, wenn ich weiß, dass ich auf jeden Fall in irgendeiner Form in diesem Tod eine Verwandlung erlebe?
HILDEBRANDT: Ich möchte gerne etwas anderes erleben, aber ich halte mich lieber an die entmythologisierte Interpretation der Bibel. Ich nehme die Auferstehung nicht wörtlich.
ZINK: Ach, an die Entmythologisierung glaube ich schon lange nicht mehr.
HILDEBRANDT: Ehrlich? Ich dafür aber ein bisschen mehr. Weil doch dieses Weiterleben, Weiterwirken nach dem Tod auch ganz anders passieren kann, als dass ein Mensch auf einmal als Auferstandener durch die Gegend läuft.
ZINK: Ich habe keine Vorstellung davon, wie die Auferstehung geschieht. Ich vertraue bloß darauf, dass sie geschieht. Ich gehe in ein Dunkel hinein und es wird wieder hell - auf irgendeine Weise, auf welche weiß ich nicht. Wenn ich sterbe, dann kriege ich vielleicht noch ein paar Dimensionen dazu. Ich habe unzählige Menschen kennen gelernt, die mit Toten kommuniziert haben. Wir haben eine viel zu eingeengte Vorstellung von Wirklichkeit.
DIE OPTIMISTIN: "Ich mache das, was mir aufgetragen ist,
immer bis zum Schluss"
CHRISMON: Bereiten Sie sich auf den Tod vor?
HILDEBRANDT: Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Normalerweise würden Sie in dem Alter nun noch nicht so viel daran denken. Durch die Krebserkrankung ist das anders. Das Verhältnis zum Tod hat sich in meiner Familie schon durch den Tod meiner Mutter 1997 verändert. Meine Mutter hatte immer gesagt, sie will an keine Schläuche, wenn es einmal so weit ist. Als sie mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus gebracht wurde mit 89 Jahren, hielt sie mir gleich anklagend den Arm mit der Infusion entgegen. Wir haben sie aus der Klinik mit nach Hause genommen und sie begleitet, bis sie nach vier Tagen eingeschlafen ist. Das Miterleben des Sterbens meiner Mutter hilft jetzt meinen Kindern, wenn wir vom Sterben reden. Sie wissen ungefähr, wie es gehen kann.
ZINK: Meine Frau und ich reden auch ganz technisch darüber. Ich habe für meine Frau ein DIN-A4-Buch angelegt, wo auf 100 Seiten steht, was man tun muss, wenn einer stirbt: Was man mit den Versicherungen machen muss, welche Zeitschriften man kündigen muss und was man mit den Geschäftsverbindungen macht. Wenn ich sterbe, braucht meine Frau keine Panik zu kriegen. Sie weiß ganz genau, wie das läuft. Und das halte ich für einen Dienst, den der eine dem anderen tun kann. Dazu muss man ganz gemütlich miteinander reden und sagen: Wenn ich mal abkratze, dann machst du das so und so.
CHRISMON: Gibt es etwas, das Sie sich noch ganz fest vorgenommen haben?
ZINK: Das habe ich nicht. Ich mache jeden Morgen das, was mir möglich ist. Ich habe eine Menge Pläne, aber wenn aus denen nichts wird, dann wird eben nichts, das macht mir nichts aus.
HILDEBRANDT: Ich mache das, was mir aufgetragen ist, immer bis zum Schluss. Bei dem "VEB Berlin Chemie" habe ich bis zum letzten Tag die Arbeiten gemacht, die anstanden. Auch als Ministerin habe ich bis zum letzten Tage alle Termine wahrgenommen, ohne zu reflektieren, dass ich in Kürze nicht mehr da bin. Und dann konnte ich mich auf das Neue einstellen. Deswegen möchte ich gerne alles so weitermachen wie bisher und mir viel vornehmen. Ich werde dazu sicher nicht kommen, weil es ja wieder viel zu viel ist - aber das mache ich bis zum Schluss.
ZINK: Ich habe mir die drei G vorgenommen. Es gibt drei G für das, was man tut: Was man tut, macht man gut, man macht es genau und man macht es gleich...
HILDEBRANDT: Ich dachte wenigstens noch gerne!
ZINK: Gerne, ja, das kann man auch sagen.
Moderation: Hedwig Gafga