Zeit zu trauern

Schlaflose Nächte, erdrückende Stille, Einsamkeit:
Das alles gehört zur bitteren Schule der Trauer.Wer sich ihr stellt, fängt irgendwann wieder an zu hoffen.
Der Trauer entgeht keiner, denn wir sind nun einmal sterblich und müssen uns mit dieser Tatsache abfinden. Mit dem Tod eines geliebten Menschen bricht die Welt für uns zusammen, das Lebensgefühl kommt ins Wanken. Man fühlt sich hohl, völlig ausgebrannt, als wäre man selbst gestorben. Alles ist dunkel in einem Lind auch um einen herum. Der Verstand kann es nicht fassen, es ist unbegreiflich, dass man plötzlich auf die Gegenwart des geliebten Menschen verzichten soll.
Man muss lernen, Dinge und Menschen herzugeben, lernen, um Verlorenes zu trauern, ohne daran zu zerbrechen. "Trauer ist Schwerstarbeit, sagte Sigmund Freud, und diese schwere Trauerarbeit ist nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Auch ein rascher Trost ist nicht möglich, der geliebte Mensch wird uns fehlen. Die nächsten Wochen und Monate werden schmerzvoll sein, der Trauernde muss mit sich selbst Geduld haben. Erinnerungen werden wach, alte Briefe holt man hervor und liest sie noch einmal, das Fotoalbum bekommt plötzlich einen höheren Wert.
Wer nicht liebt, kann nicht trauern.
Wer um nichts weint, hat nichts geliebt
Bei all dem Kramen in der Vergangenheit werden immer wieder Tränen fließen - Tränen und Trauer gehören zusammen, aber die Tränen können auch erleichtern. In dieser Beschäftigung mit der Vergangenheit liegt ein Ordnen der Gefühle, eine Hilfe, den Schmerz zu überwinden. Man muss sich dem Schmerz stellen, erst dann kann er verarbeitet und überwunden werden, das ist ein Gesetz des Lebens.
Schlaflose Nächte, erdrückende Stille, Einsamkeit und Ruhelosigkeit sind ganz natürlich, selbst Appetitlosigkeit und körperliche Schwäche muss man ertragen. Das alles gehört zur bitteren Schule der Trauerbewältigung. Wer nicht liebt, kann nicht trauern; wer um nichts weint, hat nichts geliebt. Es ist eine große Aufgabe unseres Lebens, dass wir fähig werden, durch Trauer hindurchzugehen und dennoch aufrecht zu bleiben und nicht zu verdorren.
Trauer soll aber nicht heißen, dem Vergangenen, dem Gestern ewig nachzutrauern und nicht darüber hinauszukommen. Trauer führt uns in neue Lebensdimensionen und in eine neue Hoffnung hinein, die gerade der Trauernde dringend braucht und für die er deshalb umso aufgeschlossener ist.
Jedes Leben ist durch Trennung und Verlust gezeichnet. Verlust begleitet unser Leben von Kindheit an: der Verlust der Großeltern und später der Eltern, der Heimat, der Kindheit, der Vitalität und der Verlust lieber Menschen, die wir kannten und denen wir nahe standen. Wer sich dem unterwerfen sollte, käme aus dem Trauern und der Depression nicht heraus. Aber umgekehrt hat jeder Tag auch die Chance zu neuer Freude, neuer Liebe und neuem Glück, was es uns ermöglicht, unser Leben dennoch zu bejahen.
Mit den Verlusten, die uns begleiten, müssen wir den Sinn dafür schaffen und dürfen die Anlässe der Freude nicht übersehen. Mit großen Augen schauen wir auf all die herrlichen Herausforderungen, die auch in den einfachsten Dingen liegen: im Licht des Morgens, der Luft eines Frühlingstages, dem Hauch des Windes und dem Glanz des Sternenhimmels. Wahre Freude bleibt unsere persönliche Chance und die wichtigste Dimension eines glücklichen Lebens. Wer Freude erfahren und vermitteln kann, ist wohl nie einsam. Er wird die Kunst erlernen, im Geben der Freude auch anderen wichtig zu sein, so, wie er auch sie wichtig nimmt.
Auf alten Uhren steht das Wort "Zeit eilt, teilt und heilt." Auch heilen tut sie, zum Glück. Und so geht irgendwann das Leben weiter, und die Menschen, die mit uns sind, fordern ihr Recht und geben uns wieder Mut, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken. Die Arbeit der Trauer ist abgeschlossen, auch wenn das Leben nie wieder so wird, wie es einmal war: Es geht weiter und fordert sein Recht, fordert uns.
Ich suche mir eine Aufgabe, die mich von meinen Gedanken ablenkt. Dabei erfahre ich zunächst einmal, wie es mit meinen geistigen oder körperlichen Fähigkeiten steht. Eine Aufgabe bietet nicht nur die Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Sie bringt es oft mit sich, dass der allein Lebende anderen Menschen begegnet und - was ganz wichtig ist - merkt, dass er noch gebraucht wird.
Wird dieses ja zum Leben nicht erreicht, so legen sich die Jahre in immer enger werdenden Ringen um die Seele. Der Horizont der Hoffnung schrumpft, man schaut durch die verkniffenen Augen des Misstrauens in die Welt und wird bitter. "Das ist das Schlimmste", so hat Simone de Beauvoir einmal gesagt, "alt werden und einsam sein." Es ist besonders schlimm für den, der ganz auf ein gemeinsames Schicksal hin angelegt war, das nun jäh zerstört oder allmählich gescheitert ist. Die Erinnerungen hängen wie zerrissene Spinnweben in allen Winkeln des Herzens. Man schaut sich um und sieht das erfüllte, ja sich im Alter voll erfüllende Glück der Paare, die den Lebenskampf, auch den Kampf der Geschlechter durchgestanden haben, die aneinander gereift und häufig aufeinander zu gewachsen sind, so dass sie ähnlich und einig wirken.
Für Menschen, die nach Jahren ehelicher Gemeinsamkeit allein durchs Leben gehen müssen, ist nicht Bitternis das unausweichliche Schicksal. Wir finden gerade unter ihnen die rührigsten, lebensvollsten und warmherzigsten Menschen. Fast hat man den Eindruck: Sie sind jünger geblieben als andere. Das Geheimnis ihrer Vitalität und Herzenswärme besteht darin, dass sie ihr Leben angenommen und bejaht haben und nun spüren dürfen, dass sie auf Liebe keineswegs verzichten müssen, wenn sie aufhören, Liebe für sich zu beanspruchen.
Ulrich Beer