Wer ist schuld am Tod Jesu?

Seit den Anfängen des Christentums werden - politisch betrachtet - Juden für das Todesurteil gegen Jesus verantwortlich gemacht. Ein Blick auf die historischen Fakten
Schalom Ben-Chorin, 1913 in München geborener jüdischer Theologe, erklärte ein Leben lang unermüdlich Christen das Judentum und Juden das Christentum. Gelegentlich erzählte er von einem Kindheitserlebnis, das ihm Angst und Schrecken eingejagt hat. In jungen Jahren wurde er im Englischen Garten von Nachbarskindern mit bedrohlichen Mienen gefragt, warum "wir Juden" ihren Herrn und Heiland Jesus Christus gekreuzigt hätten. Ein alter Fluch, so Ben-Chorin, verdüsterte seine Kindheit - der in der Bibel überlieferte Ausruf der jüdischen Menschenmenge vor Pilatus, dem Statthalter Roms in der Provinz Judäa: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matthäus 27,25}. Durch die ganze Kirchengeschichte hat dieser Schrei, den zuletzt der Regisseur Mel Gibson in seinem Film "Die Passion Christi" gedankenlos ins Extreme verstärkte, eine verheerende Wirkung entfaltet. Es zählt zu den unauslöschlichen Vermutungen dieser Welt, dass "das ganze Volk" der Juden (Matthäus) die Verantwortung für das Todesurteil gegen Jesus übernommen hat, während der Richter Pilatus auf seine Unschuld pochte. Doch die Vorstellung, die jüdischen Behörden oder gar die jüdische Bevölkerung hätten eine Zuständigkeit oder Mitverantwortung für die Verurteilung Jesu, ist historisch und rechtlich nicht haltbar. Zu Lebzeiten Jesu lag die Gerichtsbarkeit bei der römischen Besatzungsmacht. Nur Römer durften Todesurteile verhängen und ausführen.
Nicht einmal die vier Evangelien stimmen darin überein, wer für Urteil und Exekution verantwortlich ist. Im Johannes-Evangelium sind die historischen Tatsachen ganz und gar falsch wiedergegeben. Angeblich soll Pilatus Jesus an "die Juden" übergeben haben, die ihn dann kreuzigten. Das ist gleich doppelt verkehrt: Weder waren die Juden rechtlich zu einer Exekution befugt, noch hätten sie die Kreuzigung als Hinrichtungsart gewählt. In den Evangelien des Matthäus und des Lukas bringen Römer Jesus zu Tode, aber sie werden durch die Juden dazu angestiftet. Im Matthäus-Evangelium erscheinen die jüdischen Oberen als geradezu boshafte Strippenzieher, die Römer als Instrumente ihrer Machenschaften. Historisch korrekt ist dies nicht. Es lässt sich sogar vermuten, dass das sogenannte "Blutwort" frei erfunden ist.
Sicherlich: Palästina war zu Lebzeiten Jesu keine ruhige Provinz des Römischen Reiches. Religiöse Parteien wie die Zeloten bereiteten den gewaltsamen Umsturz vor, Endzeitprediger - Jesus war nur einer von ihnen - schürten die Hoffnung auf ein neues Gottesreich. Doch die römische Besatzungsmacht hätte keine Veranlassung gesehen, aufgrund einer Klage der jüdischen Priesterschaft wegen Missachtung jüdischer Religionsgesetze gegen Jesus vorzugehen, wie die Passionsgeschichten der Bibel unterstellen. Innertheologische Debatten interessierten die Römer nicht. Die Besatzungsmacht wurde erst dann hellhörig, wenn sie einen Aufruhr befürchten oder unterbinden musste. Pilatus, ein wacher und entscheidungsfreudiger Mann, kann im Gespräch mit Jesus aber gerade keine Klarheit über die Frage erzielen, ob dieser eine Rebellion vorbereitet. Auf die Frage des Pilatus, ob er der König der Juden sei, antwortet Jesus ausweichend, einzig im Johannes-Evangelium gesteht er auf Nachfrage: "Du sagst es, ich bin ein König." Liest man aber alle vier Evangelien parallel, so muss man ehrlicherweise sagen: Ob Jesus den Anspruch erhob, "König der Juden" zu sein, ist sehr fraglich.
Doch das beantwortet noch nicht die Frage, warum dieser "Blutruf" später in die Bibel hineingeschrieben wurde. Diese Formulierung gleicht verbreiteten alttestamentlichen Beschwörungen der Art "Gott soll mich strafen, wenn ..." Wichtig nur: Ihr Adressat ist Gott. Er gilt als eigentliche Machtinstanz dieser Welt und als Vollstrecker der Vergeltung. Gott soll entscheiden, was er für richtig hält, gegebenenfalls wird er seine Härte gegen Israel wenden, Diese Beschwörung ist also kein Aufruf zu antijüdischem Hass. Das "Blutwort" illustriert vor allem eine grundlegende Botschaft des Matthäus: Während das jüdische Volk Jesus ablehnt, wenden sich ihm die Heiden zu. Matthäus, von Hause aus selbst Jude, spricht eine deutliche Sprache, denn die ganze Welt soll Jesu Botschaft hören. Dass diese globale Ausrichtung des Evangeliums mit einem Fluch über das jüdische Volk einhergeht, ist unerträglich. Aber man muss mit der Erkenntnis leben, dass die Bibel ein Buch ihrer Zeit von Menschen ihrer Zeit ist. Leser von heute werden und müssen sich an manchen Aussagen reiben.
Eduard Kopp