1. In einer Gesellschaft, die diese Ausstellung zum Ziel eines Sonntagsausfluges nimmt, ist etwas nicht in Ordnung...... . Man muss sich nicht wundern, wenn in einer Spaßgesellschaft nun eben der Spaß am toten Körper aufkommt.

ANDREAS NACHAMA,
VORSITZENDER DER JÜDISCHEN GEMEINDE ZU BERLIN

Die Ausstellung Körperwelten ist keine Vergnügungsstätte, sondern ein besinnlicher Ort, an dem der Besucher die Möglichkeit hat, sich in pietätvoller Ruhe mit echten, anatomisch präparierten und plastinierten menschlichen Körpern auseinander zu setzen.

2. PROFESSOR GUNTHER VON HAGEN, ERFINDER DER PLASTINATION TOTER KÖRPER, AUSSTELLUNGSMACHER

Weit mehr als sechs Millionen Menschen haben an sieben Orten in Japan, Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1996 (derzeit und noch bis zum i. Juli in Berlin) die Ausstellung "Körper-welten" besucht. Und überall, wo Gunther von Hagens seinen Blick unter die Haut Verstorbener anbietet, geht das auch tief unter die Haut.

3. Schnell formieren sich allerorten Gegner wie Befürworter der Ausstellung. Die Befürworter preisen von Hagens' epochemachende Technik, Körper dauerhaft mit Kunststoffen zu konservieren, loben die Ästhetik der "Objekte" und bejubeln den neuen Einblick als Meilenstein medizinischer Aufklärung. Die Gegner tadeln des Professors Anspruch, Körpern Unsterblichkeit zu verleihen, missbilligen, dass er Menschenmaterial künstlerisch verarbeitet, beklagen die öffentliche Zurschaustellung als radikalen Bruch letzter Tabus.

Wer hat Recht?

4. Wer hat Recht?

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihres Umgangs mit Tod und Toten. Die Menschwerdung begann mit der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und der Frage, was man mit toten Menschen tun darf. Menschen aller Zeiten und verschiedenster Kulturen beantworteten sie höchst unterschiedlich.

5. Die einen aßen die Körper der Ahnen und Feinde mit großer Andacht auf oder gaben sie den Göttern zur Nahrung, damit die Energie der Toten im ewigen Kreislauf der Natur verbliebe. Die anderen schmückten und rüsteten sie für die Reise in eine andere Welt und bestatteten sie. Dritte verbrannten die Leichen und streuten ihre Asche in den Wind über Bergen und Gewässern. Wieder andere verewigten große Tote, indem sie ihre Körper präparierten. Das geschah im alten Ägypten mit den Pharaonen wie in der modernen Sowjetunion mit dem Staatsgründer Lenin. In der katholischen Tradition hüten Kirchen die Reliquien von Heiligen wie Schätze, stellen Herzen und Gebeine in kunstvollen Schreinen aus. 6. Immer gab es zur aktuellen Kultur des Umgangs mit den sterblichen Überresten ihre jähe Verneinung. Im Kampf um die Ordnung von Leben und Tod flossen Ströme von Blut. Die Spanier fanden nichts dabei, Inkas und Azteken in Mittelamerika zu vernichten, deren religiöse Menschenopfer ihnen ein Gräuel waren. Der Reliquienkult der alten Kirche wurde zum Streitfall für die Reformation. Die Verarbeitung von Haut und Haaren massenhaft ermordeter luden zu Gebrauchsgegenständen wie Lampenschirmen und Schnüren gilt zu Recht als anschaulicher Beleg für die zynische Menschenverachtung des Nationalsozialismus.
7. Dies alles spielt mit, wenn Besucher und Ver weigerer, Befürworter und Gegner heute in Deutschland über die Ausstellung streiten. Wer sich im Steinbruch der Geschichte nach Beispielen und Argumenten für seine jeweilige Position umschaut, wird auf jeden Fall fündig werden. 8. Zu den großen, die Generationen überspannenden Fragen kommt eine kleinere, aus unserem Alltag stammende, uns keineswegs weniger berührende. Wie leben die Deutschen heute mit Sterbenden und Toten?
9. Mitten im Leben ereignet sich der Tod. Aber er scheint in Deutschland keine Leichname, keine sterblichen Überreste mehr zu hinterlassen. Der Tod reißt hierzulande Lücken und verkriecht sich in hölzerne Kisten. Die öffentliche Aufbahrung der Toten ist zur seltenen Ausnahme geworden. Dass ein Leichnam die Tage zwischen Exitus und Begräbnis etwa auf dem ausgezogenen und geschmückten Esstisch einer Wohnung läge, während die Angehörigen sich in der Ehrenwache ablösten, erscheint als skurrile, geradezu unappetitliche Vorstellung. Keinen Bissen mehr würden viele von einem solchen Tisch essen wollen. Nein, der Sarg bleibt zu und, bitte schön, in der Aussegnungshalle! Viele Angehörige weigern sich selbst dort, den Toten ins Antlitz zu sehen. Sie möchten vom Tod nicht berührt werden. Man wolle seine Nächsten, so heißt es entschuldigend, lebend in Erinnerung behalten. 10. Skifahrer in einem Wirtshaus am österreichischen Arlberg. Der Wirt erzählt von der alten Zeit. Wenn auf den einsamen, hoch gelegenen Höfen im Winter jemand gestorben sei, habe man ihn nicht begraben können. Das unwegsame, tief verschneite Gelände ließ keinen würdigen Trauerzug zu. Die gefrorenen Böden der Friedhöfe lagen unter Schneemassen - unmöglich, ein Grab zu schaufeln. So nähte man die Verstorbenen in Stoff- oder Ledersäcke und hängte sie bis zum Frühjahr neben die Speckseiten zum Räuchern in den Kamin. ,Nie eklig", jammert eine elegante Mittvierzigerin,Jetzt kann ich nie mehr Rauchfleisch essen!"
11. Wie ästhetisch! "Die Plastination stoppt Verwesung und Vertrocknung so vollkommen, dass das Körperinnere aufhört, Gegenstand von Ekel zu sein... Das schöne Plastinat als sinnliche Erfahrung ist erstarrt zwischen Sterben und Verwesung" (Zitat aus dem Internet Auftritt des Institutes von Gunther von Hagens). 12. Tot darf man sein, nur nicht unästhetisch. Unästhetisch sein ist überhaupt das Schlimmste. Willkommen in der Welt des Schönen. Was in alten Zeiten Künstlern vorbehalten blieb, nämlich ihre Phantasie des Vollkommenen in Bilder zu fassen, das gelingt nun in der Wirklichkeit. Die pränatale Diagnostik lässt es zu, unästhelische Behinderte auszusortieren. Siebzehnjährige lassen sich Silikon unter die Haut spritzen, damit ihre Brüste der ästhetischen Norm entsprechen - lebende Plastinate. Mit Facelifting und Fitnesstraining retuschieren Fünfzigjährige das unansehnliche Altern weg - für immer jung! Und für den Fall des Todes können wir jetzt unsere Plastination verfügen. Dann müssen sich die Angehörigen nicht mehr ekeln. Papa mit Hund als Plastinat im Wohnzimmer. Eine Kette des Zufalls?
13. Gunther von Hagens hat vielen ermöglicht, tote Körper ohne Angst vor Ekel aus nächster Nähe zu betrachten. Selbst die ausgestellte Raucherlunge oder eine aufgeschnittene Schwangere tun dem keinen Abbruch. Die Anatomie-Studenten freuen sich zu Recht. Anstatt sich auf den Arztberuf in stinkenden Kellern vorbereiten zu müssen, eröffnet ihnen die Plastination einen belästigungsarmen Studienalltag. Der Rest der Bevölkerung nutzt die Chance, den Anblick Toter zu genießen. Das ist eine Tatsache. Unwahr ist aber, dass sie die Faszination des Echten" anlocke, wie die Ausstellungsmacher behaupten. 14. Zu echter Leiblichkeit gehört nicht zuletzt die normwidrige Mädchenbrust, gehört die erschlaffte Altershaut, gehört das Verwesen der Leichen. Das ist die Wahrheit irdischen Werdens und Vergehens und das eigentlich Faszinierende: weil die Vollkommenheit der Schöpfung in einer anderen Dimension spielt als jene menschliche Perfektion, die man mit der richtigen Mischung aus Silikonkautschuk, Epoxidharz oder Polyester erreichen kann.
  Arnd Brummer