Johann Friedrich Oberlin

Evangelischer Pfarrer im elsässischen Waldersbach

Waldersbach (Ban de la Roche)
Zu den Schätzen des Elsass gehört das Museum im Pfarrhaus in Waldersbach. Dort, etwa 5o Kilometer südwestlich von Straßburg, im Steintal, französisch Ban de la Roche genannt, lebte um 18oo Pfarrer Oberlin. Sein fast 6o Jahre dauerndes Wirken und seine weit über die acht Dörfer seiner Pfarrei hinausreichende Bedeutung wird im Museum dokumentiert. Gleichzeitig wird dem Besucher lebendig vor Augen geführt, wie das Leben vor etwa 200 fahren in den Dörfern war. Das wird in Waldersbach nicht viel anders gewesen sein als im Schwarzwald oder Kraichgau: eine unvorstellbare Armut, hohe Verschuldung, keine Bildung und niemand, der sich um das einfache, arme Volk und vor allem die Kinder kümmerte. Der evangelische Pfarrer Johann Friedrich Oberlin, eigentlich ein Städter, Theologe und Doktor der Philosophie, der Militärpfarrer hatte werden wollen, packte die Probleme an. Sein theologischer Hintergrund: Die Erde war für ihn ein Abbild des Himmels. Um diesem Abbild nahe zu kommen, mussten die Missstände auf dieser Erde, ganz konkret im Steintal, verbessert werden. So setzte er sich nicht nur ein für die religiöse Erziehung von Kindern und Erwachsenen, sondern führte auch die Schulpflicht ein. Schul- und Vorschulkinder sollten nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen, sondern auch Kenntnisse sammeln über Steine, Tiere und Pflanzen. Das Museum zeigt Oberlins Sammlung von Kräutern, die er teilweise den Kranken als Heilkräuter verordnete.
Um die drückende Schuldenlast der bettelarmen Bevölkerung zu verringern, gründete er eine Schuldentilgungskasse. Auch hier hielt Oberlin sich an die Bibel. Jeder konnte in dringenden Fällen ohne Zinsen und Bürgschaft Geld leihen. Diese häufig kleinen Beträge verhinderten ein Schuldenanhäufen durch oft damit verbundene Wucherzinsen. Wenn jemand Geld aus der Kasse geliehen hatte, sollte er es in sechs Jahren in erträglichen Raten zurückzahlen. Ein eventueller Schuldenrest sollte dann im siebten Jahr erlassen werden. So konkret setzte Oberlin die Bestimmungen des alten Israel um: Alle sieben Jahre sollst du Erlass gewähren. Erstaunlich - oder auch nicht: Es gab nur wenige im Steintal, die ihre Schulden nicht völlig zurückzahlten.
Ein anderes Beispiel von Oberlins praktisch-theologischem Wirken: der Kartoffelanbau. Um 1600 kam diese Knolle nach Europa, wurde zunächst aber nur als Viehfutter angebaut. Die Menschen, die sich im Frühjahr, wenn fast alle Vorräte zur Neige gegangen waren, mühsam von in Milch gekochten Gräsern zu ernähren versuchten, schämten sich, Kartoffeln zu essen. Wenn überraschend Besucher ins Haus kamen und Kartoffeln standen auf dem Tisch, versteckte man sie. Oberlin ging daran, auch solche ganz praktischen Fragen zu lösen. Er besorgte sich Saatproben aus Lothringen, Holland und der Schweiz. Im Pfarrgarten legte er Probebeete an und führte über Jahre Buch über Wachstum und Ertrag der Kartoffelsorten, Er fand heraus: Eine rotschalige Schweizer Sorte schien die geeignetste fürs Steintal zu sein. Sie wuchs gut, war schmackhaft und lange haltbar. Die Menschen sahen den Erfolg und baten um Saatkartoffeln. Oberlin half und brachte seinen Bauern auch bei, wie man mit Saatkartoffeln sparsam umgehen kann. Bald gab es genug Kartoffeln im Steintal, so dass etwa ab 1780 Kartoffeln aus dem Steintal auf dem Straßburger Markt verkauft wurden. Sie waren dort schnell als "Steintaler Rote" bekannt. Es soll sie heute noch geben. Handel braucht Wege und Brücken. Also fing der Pfarrer an, darüber zu predigen! "Bereitet dem Herrn den Weg und macht seine Steige richtig" (Jesaja). Was gesprochen wurde, um die in Babylon gefangenen Israeliten auf die Heimkehr durch die Wüste vorzubereiten, übertrug Oberlin aufs Steintal. Es sei Gottes Wille, Wege und richtige Stege zu haben. Was heute so klingt, als ob ein Pfarrer weltlichen Dingen ein geistliches Mäntelchen umhängen würde, galt für Oberlin nicht. Wegebau, Schulunterricht und medizinische Versorgung waren für ihn unmittelbar Auswirkungen der Nachfolge Christi. Er predigte: "Der Bauer, der sein Vaterland liebt und Christus dient und der alles darauf anlegt, seine Pflege des Bodens immer weiter zu verbessern, der seine verderbliche Achtlosigkeit ablegt und sein Bestes tut an dem, was Gott ihm anvertraut hat, der heiligt sein Werk und gibt seinen bäuerlichen Arbeiten den Glanz der Ewigkeit." Einer seiner später einflussreichen Schüler schrieb: "Oberlin machte aus dem Ackerbau so etwas wie einen heiligen Ritus: Die Erde ist ein Abbild des Himmels. Ihre Pflege gleicht einem Sakrament."
Besonders am Herzen lagen Oberlin die Kinder. Als er zu Beginn seiner Tätigkeit mit seiner Frau die Gehöfte im Steintal besuchte, war er erschrocken. Er trug in sein Tagebuch ein: "Ich konnte mich der Tränen nicht enthalten, da ich einerseits ihre zarte Jugend sah, andererseits die so üble Auferziehung, die sie haben an Orten, da Fluchen, Schelten, Schwören, Schlagen, Raufen häufiger ist als Brot." Daher gründete er im Winter 1770 die Strickstuben, die erste Kleinkinderschule Europas. Der Name sollte die Vorstellung eines anheimelnden, gut geheizten Wohnzimmers wecken. Frau Oberlin bildete im Pfarrhaus die Vorschullehrerinnen aus. Zu den Fächern gehörten: Kinderpflege, Handarbeit, Zeichnen, Singen, Geschichten erzählen, Französisch, Bibelkunde und Katechismus. Breit gefächert, fast ganzheitlich, diese Ausbildung. Das Museum belegt eindrucksvoll diesen Versuch eines ganzheitlichen Lernens. Kindern wurde etwa anhand eines Modells gezeigt, wie man richtig Enten und Gänse füttert oder wie ein Pochhammer funktioniert, mit dem man Gestein zerkleinert. Auch um das Schulwesen kümmerte sich Oberlin. Lehrer waren meist die Dorfhirten, für die es im Winter kein Vieh zu hüten gab. Im Sommer fiel die Schule aus. Mit Hilfe reicher Straßburger Freunde erreichte Oberlin auch, dass Schulen gebaut und Lehrer angestellt wurden. Er organisierte Lehrerfortbildungen. Wenn Eltern ihre Kinder nicht regelmäßig zur Schule schicken wollten, da sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden, drohte er, die Kinder nicht zu konfirmieren, und verweigerte den Eltern Kredit aus der Darlehenskasse. Wirksamer, heilsamer Druck, 100 Jahre vor der allgemeinen Schulpflicht in Frankreich. Oberlins Arbeit wurde bekannt. Was er, seine Frau und später die Hausgehilfin Luise Scheppler anfingen, gilt als Geburtsstunde der Kindergartenarbeit. Kindergärten werden heute noch nach Oberlin benannt, auch eine Stadt in den USA trägt seinen Namen. Es gab Kontakte zum Zarenhof in Russland. Goethe nahm Notiz von ihm. Der Dichter Lenz lebte einige Zeit im Waldersbacher Pfarrhaus. Georg Büchner hat der Episode in seiner Erzählung "Lenz" ein literarisches Denkmal gesetzt.
Das Museum im Pfarrhaus in Waldersbach, jetzt erweitert und renoviert, dokumentiert diese nachhaltige Arbeit Oberlins. Liebevoll wird der Besucher, auf Wunsch auch in deutscher Sprache, durch die Sammlung geführt. Öffnungszeiten: Mo. bis Fr.: 10-12,14-18 Uhr, Di. Ruhetag, Sa und So. 14-18 Uhr. Telefon: (00 33) 3 88 97 30 27
Ernst Weißer