Friedlich, fromm und hip

Und dann ist es so weit: Sie werden aufgerufen. Zögernd erheben sie sich von den Plätzen. Alles dreht sich nach ihnen um. Eilig gehen sie nach vorne, klettern über die Fotografen, die am Bühnenrand auf dem Boden liegen und sich wortlos um die beste Aussicht streiten.
Simon ist etwas blass um die Nase. Rebecca schaut scheu, aber gefasst. Die Zwillinge Marc und Steve haben sich eng untergehakt. Gut zweihundert Journalisten halten den Notizblock bereit, legen den Finger auf den Auslöser, lassen das Videoband surren. Der Moderator hält das Mikrophon hin.
Woher kommen die vier? Haben sie schon eine Platte gemacht? Und wie fühlen sie sich denn bei all der Konkurrenz: Nino de Angelo, Corinna May, Joy Fleming, der Kelly-Family? Marc tritt vor, ballt die Faust, streckt den Arm durch: "Wie David gegen Goliath!" Die Objektive senken sich wieder. Höflicher Applaus.
Geschafft. jetzt weiß es die Welt: Die Popband "Normal Generation?" aus dem Schwarzwalddorf Egenhausen ist nominiert. Sie darf auftreten bei der Vorentscheidung zum Grand Prix d'Eurovision, dem Hexensabbat des Europop. Auch wenn es nicht gelingen sollte, das Ticket zur Endausscheidung nach Estland zu ergattern, sie haben in diesem Moment schon gewonnen. Denn so schnell baut der Medienzirkus seine Zelte nicht wieder ab. Schon gar nicht, wenn die neuen Stars etwas vergleichsweise Grelles, Besonderes zu bieten haben. Und das haben sie. Simon Veigel, Stefan (Steve) Waidelich, Marcus Waidelich und Rebecca Gamer sind Christen.
Pop-Band "Normal Generation?"
Nicht nur ein bisschen - zu Weihnachten und im Trauerfall. Ihr Glaube ist ihr Alltag, ihr Alltag ihr Glaube. Selbstverständlich haben sie auch an diesem Abend gebetet, bevor sie sich in das Getümmel aus Stars und Sternchen, aus Kabelträgern und Geldgebern stürzten; gebetet, dass man sie wohl aufnimmt und alles gelingen wird. Im Taxi. Im Taxi?
Die drei Jungs wohnen in einer WG, Rebecca pendelt von Karlsruhe aus in den Schwarzwald. Alle vier sind Mitte zwanzig, seit 1995 in der Musikszene unterwegs, daneben können sie je eine kaufmännische Ausbildung vorweisen. Derzeit basteln sie mit Hochdruck an ihrer vierten CD. Ihre Musik ist ein praktikabler Mix aus melodiösen Rockelementen, Dancefloor-Hipness und Rap-Anleihen. Eingängig, schnörkellos, tanzbar. Däzu singen sie: "Outsider! I will always trust in you / Outsider! I'll follow you." Sie singen: "Oh, you know I need you / I need you every day." Und es klappert hektisch aus der DrumBox, es schmiegen sich sanfte Chorstimmen an den Lead-Sänger, es krachen die Gitarren.
Mag sein, dass die Band den Mainstream-Pop nicht erfunden hat; aber sie braucht den Vergleich mit britischen oder amerikanischen Bands nicht zu scheuen. Das Fragezeichen im Namen ist wichtig: Wir sind normal, wir sind nicht normal.
Christliche Popmusik. Man denkt an einen Halleluja-Chor, an seichte Keyboardklänge. An hagere Liedermacher, die erst das Elend dieser Welt skizzieren, um dann übergangslos Hoffnung kundzutun. Umgekehrt hält man sich in der Welt des Popbusiness mit Bekenntnissen zurück. Glaube ist etwas Privates. Eher selten, dass ein Star wie Marius Müller-Westernhagen mit einer Liedzeile wie "Jesus - schenk mir dein Leben / Jesus - spende mir Blut" die Konfrontation wagt. Ganz anders in Amerika. Da steigen die Leute ja schon während des Gottesdienstes auf die Bänke, und ihr Gesang ist noch drei Straßen weiter zu hören.
So sieht es auch der Produzent der Band, Dieter Falk. Er war emsig um die christliche Musikszene bemüht, bis er sie enttäuscht und frustriert vor zehn Jahren verließ. Und die Gruppe "Pur" entdeckte, aus ihnen eine der erfolgreichsten deutschen Bands der letzten Jahre kreierte. Früher mangelte es der christlichen Musikszene am Geld und an der Professionalität, konstatiert Falk, und, schlimmer noch: "Es fehlte auch die Qualität der Künstler. Es gab ein paar gute Sänger, aber es fehlte das andere: das entsprechende Aussehen, die gute Story, die man dazu verbraten kann." Dann traf er auf "Normal Generation?". Sah sie live. Und glaubt seitdem fest an die vier.
Die hören ihm gut zu, am Morgen nach der Nominierung, nach der Party, im Hotel. Geschirr klappert, eine Espressomaschine quiekt, Handys klingeln. Simon hat gerade mal viereinhalb Stunden geschlafen. Die anderen sehen nicht viel erholter aus. Trotzdem: Es war ein geiler Abend gestern.
Wann müssen sie wieder los? Das Taxi ist schon bestellt. Wo geht Simon denn hin? Er muss noch seine Klamotten holen. Für Marc gilt: Das andere Oberteil, das mit dem Kreuz! Nie zwei Mal hintereinander im selben T-Shirt vor die Presse treten! Marc rennt los. Rebecca zupft an ihrer Rüschenbluse. Im Stehen beißt sie noch mal in ihr Brötchen. Wo steckt denn bloß Simon?
Nein, es habe sich nichts geändert, beteuern die vier. Sie leben ihr Leben, pflegen ihre Freundschaften. Na gut: Der Stress habe zugenommen. Und es sei alles sehr, sehr aufregend, die Nächte in Fünf-Sterne-Hotels, mal schnell wo hinreisen, Fernsehauftritte, Interviews bereits am Flughafen. Und die Fotografen: Lächeln! Hände zeigen! Bitte hochspringen! Und: Pose!
Das alles ist notwendig, okay. Aber eines haben sich die vier vorgenommen: Sie möchten nie, nie, nie abgehoben sein. Doch was wird sein, wenn ihre heimelige Dorf-WG zur Kommandozentrale in Sachen Entertainment wird? Wenn sie immer weniger zu Hause sind. Wenn Simon den Klavierunterricht, den er daheim gibt, nicht mehr von Dienstagnachmittag auf Mittwochnachmittag verschieben kann, sondern endgültig absagen muss. Wenn die Oma sich nicht mehr wundert, dass es die Enkel bis ins Fernsehen geschafft haben.
Wenn immer mehr Menschen die Band einkreisen: Interviewtrainer, Medienberater, Gesangslehrer, Choreographen, Hairstylisten. Marc, der auch mal den Part des ruppigen Interviewpartners übernimmt, zeigt sich manchmal etwas abgenervt. Besonders das so ganz andere Wertesystem der Unterhaltungsindustrie passt ihm nicht: "Dass du nur was bist, wenn du etwas leistet. Nur dann angenommen wirst. Aber so denkt Gott eben nicht."
Vor dem Eingang stauen sich die Besucher, bullige Ordner halten die Menge im Zaum. Heute Abend wird Moses Pelham, einer der erfolgreichsten deutschen Rap-Musiker, sein Projekt "Glashaus" vorstellen. "Wir alle sitzen im Glashaus, und wer nun will, der werfe den ersten Stein", eröffnet Pelham das Konzert. Auch das ist christliche Popmusik, allerdings von der raueren Sorte.
Düsternis auf der Bühne. Die Drum-Beats ziehen ihre Schleifen, dunkel wummern die Bässe. Lichtblitze. Es werde Feuer vom Himmel regnen, verkündet Moses Pelham. Man hat den Eindruck, er freut sich drauf. "Denn aus viel Drangsal und Herzensangst schrieb ich euch unter vielen Tränen", rezitiert der massige Rapper mit Donnerstimme den Korintherbrief. Worauf die Liedzeile "Bin unter Tränen eingeschlafen, bin unter Tränen aufgewacht" seiner Sängerin Cassandra Steen doppelt verzagt wirkt. Später poltert ein schweißnasser Pelham im Stil eines Fernsehpredigers: "Allah, du bist mein Flutlicht! Herr, du bist mein Flutlicht!"
Eine brisante Mischung. Drohung und Verheißung. Belohnung und Strafe. Mehr Apokalypse des Johannes als Bergpredigt. "Glashaus" will Distanz. Die Show, das Styling setzt auf Kühle. Auf Erschütterung. Auf Einsamkeit inmitten der Menge als Lebensgefühl. Man wartet vergeblich auf grelle Freudenschreie, dass alles gut wird, wenn man nur "Ja" sagt zu Jesus. Manchem Zuschauer dämmert erst spät, wem er hier zuhört. Und es kommt vor, dass einer kopfschüttelnd zum Ausgang strebt: "Scheiße, das sind ja Christen."
Wo "Glashaus" strikt den Regeln des Popmarketings folgt und seine Botschaft in eine effektvolle Bühnenshow verpackt, wo herkömmliche Christenbands das Biotop Gemeindesaal nicht verlassen, versucht "Normal Generation?" einen dritten Weg: den Spagat zwischen Showgeschäft und Bekenntnis.
Zwischen Erfolg und Treue. Bis heute bieten sie christliche Workshops an: Skaten, Breakdance, Streetball, Hip-Hop-Basix - all das, was bei den Kids als "voll fett" durchgeht. Höhepunkt ist das "More of God-Camp" im Sommer. Über dreihundert Jugendliche treffen sich dann für eine Woche Party. Und um über Gott und Glauben und Zweifel und das Ultimative zu reden. Die Band ist mittendrin. Tankt auf. Lässt sich inspirieren. Wie Steve sagt: "Du gibst und du bekommst."
Simon wuchs in einem freikirchlichen Elternhaus auf; Rebecca in einem evangelischen. Marc dagegen wurde erst allmählich auf die Spur gebracht: "Mein Bruder war mit Simon befreundet und Simon hat Gott als Freund gehabt. Mein Bruder hat sich dafür entschieden, und ich hab bei denen gesehen, die haben voll das Leben gehabt." Und Marc, der bis dahin sicher war, dass man im Himmel das Wort "Spaß" gar nicht kennt, bekennt sich seitdem zu Gott, wie er sagt.
Man könnte meinen: Das Weltbild dieser jungen Leute ist recht einfach gestrickt. Sie wollen Gott nicht erklären, sondern erfahren. Den Himmel stellen sie sich gigantisch vor. Und selbstverständlich gibt es die Hölle. Die Bibel ist die Richtschnur für das eigene Leben. "Wenn ich spüre, dass Gott wirklich mein Freund sein möchte, dann fang ich an, die Gebote in anderem Licht zu sehen, weil ich weiß, dass er es gut mit mir meint", erklärt Simon. Steve ergänzt: "Wenn mein Herz eine Beziehung will zu Gott, dann steht dem nix entgegen. Und je mehr du das machst, umso mehr machst du auch die Sachen, die Gott gefallen, und immer weniger die Sachen, die Gott nicht gefallen. Weil du merkst: Da ist ein Freund und dem tut das weh." Gott, der Kumpel. Gott, den man einfach gern haben muss und der, wenn man es nicht geradezu draufanlegt, nie richtig böse wird. Ist doch logisch.
So reden sie mit ihrem Gott, täglich, beim Duschen, beim Autofahren, mehr wollen sie nicht. Und wenn es ganz gegenwärtig wird? So gilt für sie: kein Sex vor der Ehe. Marc versucht es bildlich: "Für uns ist Liebe wie ein Hundertmarkschein: Du kannst rumgehen und immer verteilen; aber ich habe gemerkt, lieber gebe ich einer Person den ganzen Schein." Ach, es ist ihnen nicht recht, darüber zu sprechen. Und wenn man sie auf den Alltag anderer Jugendlicher anspricht, dann gibt Simon zu, dass er sich mit vielen Themen noch nicht beschäftigt hat. Dass er eben eine behütete Kindheit und Jugend in der schwäbischen Idylle hatte, dass das Leben mit seiner Mom und seinem Dad vieles fern gehalten hat, was etwa Großstadtjugendliche umtreibt.
Doch warum allzu viel grübeln, wenn man doch immer wieder erfährt: Der Glaube versetzt Berge. Es ist nicht mal kompliziert. Da hatten sie diesen Song geschrieben, "Hold on". Er war geprägt durch den 11. September und die Gewissheit, dass - selbst wenn Menschen Flugzeuge in Hochhäuser donnern lassen - eines bestehen bleibt: Gott ist für uns da. Trotzdem. So wie jeden Tag die Sonne aufgeht.
Geschrieben, komponiert war das eigentlich in zehn Minuten. Aber die Plattenfirma wollte einen anderen Song ins Rennen um den Grand Prix schicken. Da setzten die Musiker sich hin und beteten. Kurze Zeit später rief ihre Plattenfirma an: "Wir nehmen doch euren Song." Danke, Jesus!
Jetzt ist sie da, die Chance zum Erfolg. "Das ist voll die Ehre, da mitmachen zu dürfen", sagt Simon. Besonders Joy Fleming hat es ihnen angetan. Wie sie einfach loslegt, nach all dem Brimborium, das ihre Grand-Prix-Nominierung begleitete. Aus dem Stand. Mit ihrem Gospelchor. Da schnippen die vier mit den Fingern, wippen mit, stimmen ein. Schließlich platzt es aus Simon heraus: "Mann, hat die 'ne hammergeniale Stimme, das haut dich voll weg, das macht alles platt!" Die Frau von der Plattenfirma zupft ihm am Ärmel: Ein anerkennendes Nicken für die Konkurrenz reiche völlig aus. Simon nickt. Zögernd.
Frank Keil