War Maria eine Jungfrau?

Sie war eine reine Magd, sagen die einen. Sie war ein erniedrigtes Mädchen, sagen die anderen, vielleicht sogar Opfer sexueller Gewalt. Über die Mutter Jesu gehen die Meinungen weit auseinander.
Ja, die Mutter Jesu war eine Jungfrau. Dies schrieb die amerikanische Theologin Jane Schaberg Ende der Achtzigerjahre. Nicht unbedingt in dem Sinn, wie es viele Christen gerne hätten. Bis sie schwanger wurde, sei Maria Jungfrau gewesen, ein junges Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, ledig, unfreiwillig schwanger, erniedrigt, vielleicht sogar vergewaltigt. Eine provokante Deutung der jungfräulichen Empfängnis ist dies - zumal für eine katholische Theologieprofessorin. Für ihre Auslegung bekam sie haufenweise Hassbriefe. Ihre Kollegen an der Universität in Detroit machten fortan einen weiten Bogen um sie. Der damalige Erzbischof Adam Joseph Maida, inzwischen Kardinal, verteilte einen Hirtenbrief gegen Schabergs Lesart der Jungfrauengeburt. Aufgebrachte Katholiken setzten ihr Auto in Brand.
Die Mutter Gottes - vergewaltigt? Total abwegig, urteilten die meisten Theologen. Sowohl diejenigen, die die Jungfrauengeburt für eine historische Tatsache halten, als auch die anderen, die in Marias Jungfräulichkeit lediglich ein Symbol sehen. Sie alle vertraten die Auffassung, Maria sei - zumindest in der Vorstellung der biblischen Autoren - auch als Schwangere Jungfrau geblieben. Ob ihre Deutung wirklich so abwegig sei, fragte die Feministin Schaberg zurück. Sie forderte die Theologen auf, einen neuen Blick auf die biblischen Weihnachtsgeschichten aus dem ersten Jahrhundert nach Christus zu werfen. Einen Blick, der nicht von den Glaubenslehren späterer Jahrhunderte verstellt sei. Schon der Prophet Jesaja (7,14) spreche in Wahrheit von einem Mädchen (hebräisch: Alma), wenn er laut deutscher Übersetzung sagt: "Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären." Worte, die bis heute in Weihnachtsgottesdiensten verlesen werden.
Auch dass der Evangelist Matthäus betone, Maria habe ihr Kind vom Heiligen Geist empfangen (Matthäus 1,18), sei kein Argument gegen ihre Deutung, so Schaberg. Denn gleichzeitig räume er Jesus einen Platz im Stammbaum seines Vaters Josef ein (Matthäus 1,16). Matthäus halte es letztlich offen, ob Jesus ausschließlich einen göttlichen oder außerdem auch einen leiblichen Vater gehabt habe. War Maria eine Jungfrau? Ja. Zu Recht hat die Alte Kirche in sämtliche Glaubensbekenntnisse hineingeschrieben: "lch glaube an Jesus Christus, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria." Dabei ging es den biblischen Schriftstellern gar nicht bloß um das Wunder der Biologie. Mindestens ebenso wichtig war für sie, dass Gott eine gedemütigte Frau zu höchsten Ehren erhebt.
Immer wieder betont die Bibel, wie gering die Mutter Jesu gewesen sei. "Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen", singt Maria in ihrem Lobgesang, als sie erfährt, dass sie den Heiland gebären soll (Lukas 1,48). Erst im griechischen Urtext sieht man, wie krass diese Worte gemeint sind: "Doule" steht dort für "Magd", genauer übersetzt: "Sklavin". Feministische Theologinnen betonen außerdem, das griechische Wort für "Niedrigkeit" sei gleichbedeutend mit "Erniedrigung": ein Attribut, das sonst häufig in Zusammenhang mit sexueller Gewalt gegen Frauen stehe. Tatsächlich haben Bibelausleger der ersten nachchristlichen Jahrhunderte beide Deutungen der Jungfrauengeburt vertreten. Die einen betonten das Wunder der Jungfräulichkeit Marias auch nach der Empfängnis. Die anderen sahen in ihr eine gedemütigte Frau, die vielleicht auf ähnliche Weise Opfer sexueller Gewalt war wie viele andere Frauen auch.
Im Laufe der Geschichte veränderte sich der Blick auf Maria. Je reiner, strahlender und himmlischer sie erschien, desto mehr geriet ihr allzu menschliches Wesen in Vergessenheit. Aus der erniedrigten wurde die reine Magd, aus dem Mädchen die Himmelsgöttin. Vor allem Reformtheologen wie Martin Luther wiesen weiterhin auf die Niedrigkeit der Mutter Jesu hin. Maria war eine Jungfrau, ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, das ungewollt schwanger wurde. Ob man die Jungfräulichkeit Marias darüber hinaus auch als biologisches Wunder deutet, bleibt jedem überlassen. Für den christlichen Glauben ist das nicht entscheidend wichtig.
Burkhard Weitz