Eine Region voller Gegensätze

Der Kirchenbezirk Baden-Baden und Rastatt

Am Anfang gab es nur eine einzige evangelische Gemeinde. Gernsbach lag wie eine Insel im heutigen Kirchenbezirk Baden-Baden und Rastatt. Der Rest war katholisch. Die meisten der 22 evangelischen Gemeinden des Bezirks entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Flüchtlingsströme, Arbeitsuchende und Senioren zogen in die Region. Mittlerweile ist etwa ein Viertel der Bevölkerung im Bezirk evangelisch.  
  Wer wissen möchte, was den Kirchenbezirk Baden-Baden und Rastatt charakterisiert, stößt auf einen Widerspruch in sich: "Es gibt kein Kennzeichen, das für den ganzen Bezirk gilt", stellt Dekan Sieghard Schaupp fest. "Denn was unseren Bezirk kennzeichnet, ist seine Vielfalt und Gegensätzlichkeit." Ist Baden-Baden als Region der Erholung und Kultur bekannt, befinden sich in Gaggenau und Rastatt bekannte Industrieunternehmen. Wohlhabende Gegenden liegen neben solchen, in denen eher bedürftige Menschen wohnen. Einheimische und Zugewanderte leben nebeneinander. Und selbst die Hinzugezogenen sind keine einheitliche Gruppe, sondern setzen sich aus Industriearbeitern, Asylsuchenden, Spätaussiedlern und Pensionierten zusammen. "Sehr viele meiner Chormitglieder sind keine Einheimischen", stellt Kantor Walter Bradneck vom Gruppenkantorat Gaggenau fest. "Einige kamen nach dem Krieg, einige haben eingeheiratet, viele arbeiten bei Mercedes. In meinem Chor singen Menschen aus Schwaben, Norddeutschland und Zelle." Auch landschaftlich ist der Bezirk abwechslungsreich. Von der Rheinebene bis hoch in den Schwarzwald sind seine Gemeinden verstreut. Die Orte sind durch Berge voneinander getrennt.
"Ich liebe meinen Kirchenbezirk", schwärmt Pfarrer Hans-Ulrich Carl, Bezirksbeauftragter für Erwachsenenbildung. "Seine Vielfalt gibt ihm Weite und die Bereitschaft, sich nach allen Seiten offen zu halten." Offenheit demonstriert der Bezirk etwa durch seine Partnerschaft mit dem Kirchenbezirk Tallunglipu auf der indonesischen Insel Sulawesi. Offen ist man im Bezirk aber auch für den ökumenischen Austausch. "Die Zusammenarbeit der christlichen Religionen ist in Baden-Baden selbstverständlich", betont Pfarrer Carl, der lange Jahre Bezirksbeauftragter für Mission und Ökumene war. Ebenso ist das rege Engagement für Flüchtlinge ein Zeichen der Offenheit des Bezirks.  
Dekan Sieghard Schaupp Wo so viele Gegensätze aufeinanderprallen, sind allerdings auch Konflikte programmiert. "Die Vielfalt des Bezirks ist sein Reichtum, macht aber zugleich Integration zur wichtigsten Aufgabe", so Dekan Schaupp. Die Interessen der verschiedenen Gemeinden gehen auseinander. Besonders deutlich trat dies beim Einrichten des neuen Verwaltungsamts zutage. Die Frage, wo das neue Amt, das die finanziellen Angelegenheiten regelt, seinen Sitz haben soll, rief starke Rivalitäten zwischen Baden-Baden und Rastatt hervor. Da Rastatt mit der Entscheidung für Baden-Baden nicht einverstanden war, wird es weiterhin sein eigenes Kirchengemeindeamt behalten. "Es haben viele Gründe dafür gesprochen, das Verwaltungsamt nach Rastatt zu legen. Beispielsweise ist der Hauptsitz des Diakonischen Werks in Rastatt", argumentiert der Rastatter Michael Janke von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bezirks. Den Vorwurf, dass Baden-Baden den Bezirk zentralistisch verwalte, weist Schaupp zurück. "Baden-Baden wird als Kirchengemeinde nicht bevorzugt. Das ist beispielsweise bei der Pfarrstellenstreichung in Baden-Baden deutlich geworden."
Zwei Pfarrstellen mussten im Zuge der Strukturreform im Bezirk Baden-Baden und Rastatt gestrichen werden. Die Auswahl wurde gemeinschaftlich getroffen: Im Murgtal wurde eine Pfarrstelle um die Hälfte und zwei wurden um je ein Viertel gekürzt. In Baden-Baden fiel eine Pfarrstelle ganz weg, da man nur dort darauf hoffen konnte, einen Fonds zur Erhaltung der Pfarrstelle einrichten zu können. Über Spenden, zwei große Erbschaften und Bezirkskollekten konnte genug Geld gesammelt werden, um die Pfarrstelle mit eigenen Mitteln zu finanzieren. "Die Pfarrstellenstreichung war ein gutes Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeit", bestätigt Michael Janke. Auch der neue Name des Bezirks soll dem Vorwurf des Zentralismus entgegenwirken. Nach der Bezirksvisitation im letzten fahr wurde der Bezirksname "Baden-Baden" in "Baden-Baden und Rastatt" geändert. Allerdings könne durch die neue Namensgebung der Rest des Bezirks noch mehr in den Hintergrund gedrängt werden, befürchtet Janke.  
  "Eine integrative Kraft ist unbedingt notwendig", stellt Dagmar Dengler von der Erwachsenenbildung fest. Einen Beitrag dazu versucht sie mit ihrer Arbeit zu leisten. So bietet sie unter anderem in ökumenischer und die badischen Grenzen überschreitender Kooperation das Programm "Single sein links und rechts vom Rhein" an. Allerdings ist ihr Einfluss beschränkt. Nicht alle Gemeinden stehen ihrer Arbeit offen gegenüber. Ein großer Teil ihres Angebots findet deshalb in Baden-Baden statt, da dort die Nachfrage am größten ist.
Bezirksübergreifende Veranstaltungen stoßen in der Frauenarbeit auf größere Resonanz. Über 8o Frauen aus fast allen Gemeinden des Bezirks kommen beispielsweise jährlich zum Bezirksvorbereitungstag für den Weltgebetstag der Frauen. Und mindestens einmal im Jahr werden Frauen aus allen Gemeinden zum Bezirksfrauentag eingeladen. Unter dem Motto "Wer rollt uns den Stein weg?" wurde der Tag dieses Jahr zum ersten Mal ökumenisch gestaltet.  
  Eine verbindende Kraft geht außerdem von der Kirchenmusik des Bezirks aus. Seit zwei Jahren trifft sich unter der Leitung von Kantor Friedemann Schaber der Bezirksbläserkreis. Er setzt sich aus Mitgliederdern einzelnen Posaunenchöre des Bezirks zusammen. Schaber, der hauptsächlich für die Gemeinden in Rastatt und Gernsbach zuständig ist, unterstützt mit 15 Prozent seiner Stelle den Bezirkskantor Alain Ebert in Baden-Baden. Die Arbeit des Bezirkskantors ist vielseitig. Ebert leitet neben der Kantorei in Baden-Baden eine Kinderchorgruppe in Bühlertal. Er fährt im Bezirk umher, um denen Orgelunterricht zu geben, die wegen schlechter Verkehrsanbindungen nicht nach Baden-Baden kommen können. Er organisiert außerdem gemeinsame Veranstaltungen und Konzerte mit Kantor Friedemann Schaber und Kantor Walter Bradneck aus Gaggenau. So etwa zum Reformationsfest, zu dem jedes Jahr alle Kirchenchöre des Bezirks eingeladen werden. Gibt es Vorbehalte unter den Gemeindemitgliedern, an gemeinsamen musikalischen Projekten zu arbeiten? Der Gaggenauer Kantor Bradneck, der bereits zwei gemeinsame Aufführungen mit Baden-Baden erlebt hat, stellt Unterschiede unter den Musikern fest, macht aber auch Hoffnung für die Zukunft. Gaggenau sei mehr eine Arbeiterstadt, seine Chormitglieder haben andere Berufe als die Sänger in Baden- Baden. "Beim ersten Mal vor zwei Jahren gab es gewisse Empfindlichkeiten. Beim zweiten Mal lief es aber schon besser."
  Alexandra Schmidt