SOS-Kinderdorfmutter

Protokoll einer besonderen Berufswahl

Beruf: SOS-Kinderdorfmutter
Viele Leute denken, dass man als SOS-Kinderdorfmutter keinerlei Freiheiten hat, dass man nur noch für die Kinder lebt, nicht mal ins Kino kann - fehlt nur noch, dass wir eine Kutte tragen! Aber ich habe ein ganz normales Privatleben und einen richtigen Arbeitsvertrag: mit Urlaub und einem freien Tag pro Woche; meist lege ich die freien Tage zusammen, besuche Freunde und Verwandte, dann kommt die Erzieherin mit ihrer Tasche und zieht ins Gästezimmer. Es ist schon eine Vermischung von privatem Leben und Beruf mein Arbeitsfeld ist eben auch mein Zuhause -, aber ich habe außerdem noch ein Zimmer ganz für mich. Mein Freund besucht mich hier ja auch.
Gelernt habe ich anfangs was anderes: Einzelhandelskauffrau. Irgendwann wollte ich nicht mehr Prellbock für genervte Feierabendkäufer sein. Keine Ahnung, was ich stattdessen werden wollte, aber mir gingen die Straßenkinder vom Bahnhof Zoo nicht aus dem Kopf, denen ich oft ein Brötchen zugesteckt hatte. Dann las ich diese Anzeige: SOS-Kinderdorfmutter - wäre das was für Sie? ja, dachte ich: Ich möchte Kindern, die nicht so behütet aufgewachsen sind wie ich, ein Zuhause geben! Selbst Kinder zu bekommen, diesen Wunsch hatte ich nie.
Ich wurde Erzieherin, arbeitete dann im SOS-Kinderdorf Lütjenburg in Schleswig-Holstein als Familienhelferin: Man unterstützt die Kinderdorfmutter und hat Zeit, sich das für sich selbst zu überlegen. Ich war durchaus skeptisch. Ich konnte es nämlich gut genießen, zu Hause in meiner Wohnung zu sitzen, und da ist kein Streit. Wir haben ja schwierige Kinder in den Kinderdörfern: Kinder, die nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien leben können, zum Beispiel weil sie vernachlässigt wurden oder misshandelt.
Ich war mir einfach nicht sicher, ob ich robust genug bin. Kann ich diese Verantwortung tragen für bis zu sechs Kinder? Möchte ich das überhaupt? Wenn ich die Kinderdorfmutter längere Zeit vertreten hatte, konnte ich manchmal dieses ganze Kinderdorf mit seinen zwölf Familienhäusern nicht mehr sehen, ich musste auf Abstand gehen. Ich hab auch mitgekriegt, wie Kinderdorfmütter von ihren Kindern so eingenommen wurden, dass sie vor lauter Anstrengung nicht mehr wussten, was richtig oder falsch ist. Sicher, dann sorgt die Leitung für eine Auszeit, und sei es eine Kur.
Aber es gab mir doch zu denken, dass mich ein traumatisierter Junge total an meine Grenzen gebracht hat. Ich wollte erst einmal nicht Kinderdorfmutter werden, mir war das Risiko zu hoch. Aber allmählich merkte ich, dass mich die Auseinandersetzungen mit diesem Jungen nicht mehr so belasteten. Eine enge Beziehung war entstanden. Er schlug weiter um sich, beschimpfte mich, aber ich nahm es nicht mehr persönlich.
Dann ging eine Kollegin in Ruhestand, und dieses Haus stand leer. Da sagte ich: jetzt kann ich es mir vorstellen, Kinderdorfmutter zu werden. Ich bekam fünf Kinder auf einmal - Geschwister, von 8 bis 13.
Ich hab wirklich Glück gehabt mit meinen Kindern, es hätte mich schlimmer treffen können - ich hab das ja erlebt, wie hart es ist, wenn ganz viel aus der Vergangenheit der Kinder aufbricht. Aber meine fünf haben mir den Einstieg leicht gemacht. Sie akzeptieren mich als Mutter, obwohl wir alle wissen, dass ich nicht ihre richtige Mutter bin. Neulich hab ich den Zwölfjährigen so schelmisch von der Seite angeschubst: Nun erzähl doch mal, wer ist denn deine neue Freundin! Sagt er grinsend: "Das geht dich nix an, du bist eine Mutter!"
Ich merke jetzt: Ich bin doch robust genug. Die Kinder sind gar nicht das Problem, eher der ganze organisatorische Wust. Mein Team koordinieren - das sind die Erzieherin und der Diplompädagoge -, dann die ganzen Termine mit Jugendamt, Schulen, Heilpädagogen, den leiblichen Eltern. Das ist viel. Aber ich hab phantastische Kinder. Ich liebe sie. Im Moment kann ich mir vorstellen, ein Berufsleben lang SOS-Kinderdorfmutter zu bleiben. Und sollte ich doch mal ein eigenes Kind bekommen, kann es ja auch hier aufwachsen.
Christine Holch