Beruf Hure?

Ein rotgrüner Gesetzentwurf hat eine neue Debatte über Prostitution entfacht.
Beruf: Hure? Zwei Frauen reden über Ausbeutung und Liebe im Sexgeschäft

CHRISTINE T., 54, war vor ihrer Ehe als zahnärztliche Helferin tätig. Nach ihrer Heirat begann sie, in Hamburg als Prostituierte zu arbeiten. Sie behauptet sich seit 20 Jahren im Sexgeschäft. STEPHANIE E., 26, ist in München aufgewachsen, wo sie als Jugendliche in einem Bordell arbeitete. Nach ihrer Flucht nach Hamburg nahm sie zunächst Putz- und Verkaufsstellen an, bevor sie auf St. Pauli noch einmal als Prostituierte arbeitete. Wegen der Unsicherheit im SexGewerbe hat sie inzwischen mit der Prostitution aufgehört und absolviert eine Umschulung zur Grafikerin.
CHRISMON: Ihre Wohnung ist voller Engel, Christine. Wie sind denn die zu Ihnen gekommen? CHRISTINE: Seit meiner Kindheit sind die bei mir. Ich glaube an Engel. Mein Schutzengel ist immer bei mir. Gesehen habe ich ihn damals nach meiner Vergewaltigung. Die Engel halfen mir zu überleben. Ich war damals 25 fahre alt.
CHRISMON: Viele Frauen, die als Huren arbeiten, sind missbraucht worden ... CHRISTINE: Bei mir trifft das zwar zu, aber das hat nichts mit der Prostitution zu tun. Ich bin in der Ehe vergewaltigt worden. Das kann jeder Frau passieren und ist auch schon vielen passiert. STEPHANIE: Ich bin mehrmals vergewaltigt worden. Das erste Mal mit 1o Jahren, dann mit 14, mit 16, mit 21 und mit 25. Das passiert, wenn man am falschen Ort im falschen Moment eine falsche Ausstrahlung hat.
CHRISMON: Glauben Sie nicht, dass diese Erfahrungen von Gewalt doch etwas mit Ihrer Berufswahl zu tun haben könnten? CHRISTINE: Ganz und gar nichts. STEPHANIE: Nein. Ich hatte Schulden. Vor allem aber ein schlechtes Selbstwertgefühl. Ich dachte: "Ich bin nichts. Dann kann ich doch dahin gehen." Ich hab mich erst später schätzen gelernt, durch meine Arbeit auf dem Strich. Als Prostituierte hab ich gemerkt, dass ich etwas wert bin, etwas leisten kann. Ich erreiche meine Ziele. Wenn jemand iooo Mark die Stunde ausgab, um mit mir zusammen zu sein, gab mir das Selbstbestätigung.
CHRISMON: Wie sind Sie Prostituierte geworden? STEPHANIE: Ich war naiv. Ich suchte einen Nebenjob. In der Disko wollte ich am Tresen oder an der Bar arbeiten. Dann kam ein Zuhälter und hat mir ein Angebot gemacht: Er 20 Prozent, ich 8o, er würde mich beschützen. Da sagte ich: "Wunderbar, zeig mir den Laden, zeig mir die Kleider. Sag mir, was ich tun soll." Nichts dergleichen. Er hat mir nicht gesagt, worum es geht. Ich konnte nicht mal einen Gummi drüberstülpen. Ich stand im Baumwollunterhöschen und in komischen Schlappen im Puff, hatte keine Ahnung. Er hat mir dann auch alles weggenommen und gesagt: Wenn ich weglaufe, schlägt er mich krankenhausreif.
CHRISMON: Waren Sie mit dem Mann zusammen? STEPHANIE: Nein, das war rein geschäftlich. Wir hatten keinen Geschlechtsverkehr. Wir waren einmal die Woche nur aus und haben über das Geschäft gesprochen. Letztendlich bin ich dann mit Sack und Pack von München nach Hamburg weggelaufen. Zwei Koffer und 70 Mark, nur weg. 21 war ich damals. CHRISTINE: Bei mir war es etwas anders. Ich bin damals in dieses Milieu hineingekommen, weil, na ja, man hatte eben vier Kinder zu Hause, noch keinen schönen Ring, kein schönes Minikleid, dies und jenes nicht, das hat dann ein Mann einem geboten, und so ist man da reingekommen. Es ist kein einfaches, aber ein schnelles Geld, und man hat die Glitzerwelt gesehen. Zu Hause wurde man kurz gehalten. Nun konnte man in die Disco, konnte Pelze tragen, sich alles Mögliche leisten.
CHRISMON: In München hatten Sie schlechte Erfahrungen, Stephanie. Warum haben Sie in Hamburg weitergemacht? STEPHANIE: Na ja, meine Schulden hab ich in Hamburg durch Nebenjobs abbezahlt, Putzstellen, Servieren, nicht durch den Strich. Doch dann hab ich mich in einen Mann verliebt, der seit langem Zuhälter war. Der schaffte es schließlich auch, mir mein Erspartes abzuluchsen. Ich bin dann wieder weggelaufen. CHRISTINE: Nicht schlau geworden STEPHANIE: Ich war das erste Mal verliebt, sah alles durch eine rosarote Brille. CHRISTINE: Das passiert eben immer wieder. Wenn man nicht stark genug ist. Aber wenn das neue Gesetz rauskommt, wird das anders. Dann kann ich als Prostituierte einen Arbeitsvertrag bekommen, bin versichert, kann meine Ersparnisse weglegen, kann Rechte einklagen.
CHRISMON: Wie kann denn die Legalisierung der Prostitution verhindern, dass man sich in den Falschen verliebt? CHRISTINE: Dann sind so junge Mädchen nicht mehr abhängig von einem Mann, der ihnen Liebe vorgaukelt. Dann können sie sagen: Tschüs, ich geh in ein anderes Bordell. Und wenn dann der ehemalige Freund kommt und droht, dann kann man die Polizei rufen.
CHRISMON: Aber wie ist das denn nun mit dem Verlieben? CHRISTINE: Da reift man ja auch mit der Zeit. Ich bin jetzt seit 20 Jahren im Geschäft. Als ich angefangen habe, war ich verheiratet, hatte Schläge bekommen, war überfallen worden und hatte schon ne ganze Menge hinter mir. Wenn dann ein Mann kommt, der in diesem Milieu tätig ist und Liebe verspricht, dann greift man nach diesem Strohhalm. Dann gibt man sich hin und denkt: Das ist das Optimale. Man sieht nicht, dass der einen ausnutzt und nur das Geld will, nicht meinen Körper oder mich selber. Das lernt man erst, wenn man reifer ist.
CHRISMON: Und dann, wenn man das einmal verstanden hat, wird Prostitution irgendwann ein ganz normaler Job? CHRISTINE: Ich mach ne Dienstleistung und kriege Geld dafür. Davon ernähre ich mich. Darum geh ich nicht zum Sozialamt. Ich verkaufe nicht meinen Körper, ich verkaufe nicht meine Seele und mich auch nicht. Ich verkaufe Sexualität, die man in jedem Sexshop auch kaufen kann. Aber es ist ein schwerer Beruf, weil es eine gewisse Umstellung ist. Ich verkleide mich ja, wenn ich abends zur Arbeit gehe. Ich schotte mich auch ab. STEPHANIE. Ich hab mich meist nur auf die Arbeiten eingelassen, bei denen ich sagen konnte: "Ich kann das vor mir selbst verantworten." Also das, was mich nicht zu sehr seelisch berührt oder wovon ich körperlichen Schaden davontrüge.
CHRISMON: Können Sie sich bei Ihrer Arbeit wirklich so abschotten, dass keiner mehr Sie in Ihrem Innersten erreicht? CHRISTINE: Selbstverständlich. Aber wenn ich dann doch etwas von mir gebe, dann liebe ich den Mann. Das ist mir mal passiert. Zwei Jahre hat dieser Mann um mich und meine Liebe gekämpft. Heute bin ich acht Jahre mit diesem Mann zusammen. Das war ein Gast. Ja, der hat wirklich gekämpft um meine Liebe. Bis ich es zugelassen habe. Dann ist daraus Liebe entstanden. Und die hält bis heute. Das gibt es auch. Es ist sehr selten. Und es ist sehr schön.
CHRISMON: Was haben denn Liebe und Sex miteinander zu tun? CHRISTINE: Sex ist immer eine schöne Beigabe zur Liebe. Aber Liebe ist etwas ganz anderes. STEPHANIE: Ich kann noch nicht mal sagen, dass ich lieben kann. Ich kann mich an meinen Partner gewöhnen. Ich bin gern in seiner Nähe. Aber Sex hatte ich bisher keinen richtigen mit meinem Partner. Auch bei der Arbeit hatte ich übrigens noch nie echten Sex. Ich kann das technisch wunderbar. Ich kann es vorspielen. Sex und Liebe zusammen - das kenn ich nicht. Sex im Puff war immer distanziert und kalt. Weil man sich nicht ganz offenbaren möchte vor den Gästen, Dort habe ich nie gelernt, mich zu öffnen. Nun habe ich meine Schwierigkeiten. Deswegen lebe ich schon seit zwei Jahren ohne Sex mit meinem Partner. CHRISTINE: Wenn ich mit Gästen zusammen bin, kann ich mich natürlich nicht mit meiner Liebe offenbaren. Bei denen schalte ich ab. Aber ich habe einen Lebenspartner, der mir gezeigt hat, was Liebe bedeutet. Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Zärtlichkeit. Auch in der sexuellen Liebe öffne ich mich bei ihm. Das geht. STEPHANIE: Aber nur wenn man ein paar Tage älter ist. Ich sage heute: Man darf nicht in jungen Jahren mit dem Anschaffen anfangen.
CHRISMON: Sie haben beide feste Lebenspartner. Wann beginnt für Sie eine Beziehung? STEPHANIE: Wenn mein Partner und ich sagen, wir möchten miteinander einen Lebensabschnitt verbringen, vielleicht sogar heiraten. Man besucht sich jedes Wochenende, man verbringt viel Zeit miteinander, telefoniert, kuschelt, sehr viel Nähe - einfach, wenn man die Nähe des Partners liebt, sich geborgen fühlt, einfach kein Wort dafür findet - das, denke ich, ist Liebe. Manchmal geht man sich gewaltig auf den Zeiger, das ist auch normal. Das ist aber auch der Punkt, wieder zusammenzufinden. Sex gehört wohl auch dazu, aber ... CHRISTINE: ... es ist eine schöne Beigabe. Wenn's funktioniert.
CHRISMON: Sind Sie wegen Ihres Partners aus der Prostitution ausgestiegen, Stephanie? STEPHANIE: Auch. Er wollte, dass ich aufhöre. Ich hab aber auch zu viele Frauen getroffen, die nicht abgesichert waren und mit 5o, 6o noch am Anschaffen waren. Das waren abschreckende Beispiele. Wenn ich aber noch mal einsteigen würde, dann nur noch im Studio als Domina, nicht mehr als Zofe oder Sklavin oder auf der Straße. Da hab ich mehr Distanz und zieh mich nicht aus.
CHRISMON: Hatte Ihr Lebensgefährte nie etwas gegen Ihren Beruf, Christine? CHRISTINE: Nein. Kann er auch gar nicht, weil er ja auch mal mein Gast war.
CHRISMON: Er hätte ja auch sagen können: Ich hol dich raus. CHRISTINE: Wenn er das finanziell gekonnt hätte, dann hätte er es auch getan. Aber nicht, weil er den Beruf verteufelt. Sondern weil er meint, das sei zu schwierig für mich. Klar, er sagt, das sei kein idealer Beruf Ganz klar, das können wir nicht wegwischen.
CHRISMON: Können Sie verstehen, dass Menschen auch aus religiösen oder moralischen Gründen Prostitution ablehnen? CHRISTINE: Dieses Recht hat keiner. Diejenigen, die mit dem Finger auf uns zeigen oder die sagen: Prostitution ist sittenwidrig das ist für mich keine Kirche. Es gibt einen lieben Herrgott, der wird immer die Tür für uns aufhalten. Für alle Prostituierten. Es gibt keinen, der mich be- oder verurteilt. Weder mich noch meine Kolleginnen. Wenn ich eines Tages ins Licht gehe, wird er verzeihen. Das gilt für meine Sünden, die ich begangen habe. Mein Beruf hat damit aber nichts zu tun. Ober meinen Beruf wird Gott sagen: Ich habe euch mit einem freien Willen erschaffen. Macht das, was ihr für richtig haltet. Denn Gott ist für alle Menschen da.
CHRISMON: Und wie soll die Kirche Ihrer Meinung nach mit Prostitution umgehen? CHRISTINE: Zum Beispiel so wie diese Mädchen von der Teestube Sarah, das ist ein Projekt von Christen. Die bringen uns Kaffee und Kondome - was normalerweise ja verboten ist, das fällt ja unter die Förderung der Prostitution. Die haben immer ein offenes Ohr, laufen bei Wind und Wetter rum und kommen direkt zu uns. Das bedeutet für mich: lebende Engel, das bedeutet für mich Kirche.
Moderation: Hedwig Gafga und Reinhard Mawick