Das Blut an der Weste des Verräters klebt fest

Judasevangelium soll gefallenen Jünger rehabilitieren / Karlsruher Akademiedirektor bezweifelt Aussagekraft

Die Evangelien

Das Leben und Sterben Jesu von Nazareth ist aufgezeichnet worden in mehreren Evangelien. Die urchristlichen Gemeinden überlieferten diese Texte teils mündlich, teils schriftlich. In der Mitte des vierten Jahrhunderts tagte ein Konzil, das die gültigen Texte des Neuen Testaments zusammenstellte - die so genannte "Kanonsierung" des Neuen Testaments, auf der die Bibel noch heute basiert.

Als Kriterium galt damals, dass es alles Texte von Aposteln sein mussten, außerdem kamen nur Texte in Frage, die in den Gemeinden noch gelesen werden. Hieraus ergaben sich als offizielle Evangelien die Schriften nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Nach gängiger Lehrmeinung ist das Markusevangelium das älteste (vor dem Jahr 70), das Johannesevangelium das jüngste (um das Jahr 100).

In den Anfangsjahren gab es weitere Evangelisten, deren Texte nicht in die Bibel aufgenommen wurden, weil man ihre Inhalte nicht für authentisch hielt. Häufig zitiert wird das Thomasevangelium von einem Apostel namens Thomas. Das Judasevangelium ist nur noch in Fragmenten erhalten und steht in koptischer Sprache, einer Mischung aus Griechisch und Ägyptisch. Es soll im vierten Jahrhundert entstanden sein als Übersetzung eines griechischen Texts aus dem zweiten Jahrhundert. Es kann daher nicht von Judas selbst geschrieben worden sein - der Name basiert offenbar auf der Tatsache, dass es die Geschichte hauptsächlich aus dem Blickwinkel des Judas erzählt.

Verräter! Heuchler! Wie oft haben Christen wohl schon solche Wörter dem biblischen Judas symbolisch hinterhergerufen? In Osternächten, Schauspielen und Karfreitagsgottesdiensten ist klar: Dieser Verräter hat den friedlichsten aller Menschen ans Kreuz gebracht. Judas, der Unmensch, der den Messias mit einem Kuss an die Römer verpfiffen hat. Der Gierige, der sich nicht zu schade war, dafür läppische 30 Silberlinge einzusacken. Der Heuchler, der zu Lebzeiten um Jesus herumgeschwänzelt ist. Der Feigling, der sich nach allem Trubel aufgehängt hat. Judas, der Verräter. Das klingt fast schon wie: Judas, der Mörder Jesu.
Oder war alles doch ganz anders? Seit einiger Zeit geistert ein ominöses Judasevangelium durch die Öffentlichkeit, das in Ägypten aufgetaucht sein soll und letztlich von dem Augsburger Theologieprofessor Gregor Wurst der verblüfften Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Diese Schrift dreht den Spieß ganz einfach um. Judas Iskariot soll der engste Vertraute Jesu gewesen sein, heißt es da, der Einzige, der den Heilsplan von Tod und Auferstehung wirklich verstanden habe und zum letzten Schritt bereit gewesen wäre. Der letzte Schritt, den ihm Jesus selbst befohlen haben soll: der Verrat.
"Diese Sichtweise ist nichts sensationell Neues", meint der Karlsruher Direktor der evangelischen Akademie, Jan Badewien. Diese Ansicht vertreten seit dem Auftauchen dieser Schrift auch andere renommierte Theologen wie etwa der katholische Geistliche Donald Senior aus Chicago oder der Bibelwissenschaftler Thomas Söding aus Wuppertal. "Die Geschichte spiegelt eine der vielen Facetten des frühen Christentums wider", so Badewien. Die Theologen sind sich einig, dass aufgrund dieses Fundes die Bibel keineswegs neu geschrieben werden müsste - wie gelegentlich behauptet wird. Es habe bei der Kanonisierung gute Gründe dafür gegeben, nur vier Evangelien in die Bibel aufzunehmen, so Badewien. (Siehe Die Evangelien)
Die Diskussion um die Person des Judas ist so alt wie die Kirche. Auch in der jüngeren Vergangenheit setzten sich Wissenschaftler immer wieder mit dem Verräter auseinander. Im Jahr 1977 schrieb zum Beispiel Walter Jens das Theaterstück "Der Fall Judas", das in der Aussage gipfelt, die Kirche müsse den Ver- räter eigentlich heilig sprechen. Auch hier wie- der der gleiche Gedankengang: Ohne Judas kein Verrat, ohne Verrat keine Kreuzigung, ohne Kreuzigung keine Auferstehung - und ohne Auferstehung keine christliche Kirche.
Gleichwohl werden die Christen, wenn sie sich am heutigen Gründonnerstag des letzten Abendmahls Jesu erinnern, den Verräter nicht so leicht in ihr Herz schließen können. Denn spätestens am Karfreitag, dem Tag des Gedenkens an Jesu Kreuzigung, kommt der Tod keineswegs so süß mehr daher, als dass man den Verantwortlichen dafür loben möchte. Da fließt Blut, da schreit der sterbende Erlöser: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
"Die Texte des Judasevangeliums sind an vielen Stellen recht kryptisch, oftmals fehlen mehrere Zeilen, Sinnzusammenhänge sind oft nicht klar", berichtet Akademiedirektor Badewien. Eindeutig ist jedenfalls der Ansatz, mit dem Judas verherrlicht werden soll: Er entspringt einer so- genannten "gnostischen Splittersekte", die in den frühen christlichen Gemeinden eine Art "Gegenbibel" aufstellen wollte. In diesen Kreisen galt nicht nur Judas als Held, sondern auch der alttestamentarische Kain, der seinen Bruder Abel auf dem Feld erschlagen hatte.
Ebenso eindeutig ist für Badewien allerdings, dass die Überlieferung des Judasevangeliums nicht sehr authentisch sein kann: "Es sind interessante Sprüche enthalten. Aber das Judasevangelium enthält kein einziges Jesuswort, das an der Seite der anderen Evangelien bestehen kann." Er selbst will sich nicht eindeutig auf ein Judas-Bild festlegen. "Es ist schwer zu sagen, welche Rolle er damals wirklich gespielt hat." Forschungen hätten inzwischen immerhin herausgefunden, was der Beiname "Iskariot" bedeutet: Er deute darauf hin, dass Judas mit Gewalt einen Umsturz herbeiführen wollte - was nun deutlich gegen die Variante des "engsten Vertrauten" spricht: Das Blut an der Weste des Verräters klebt fest. Es lässt sich mit dem Fund eines Schriftstücks offenbar nicht so einfach abwaschen. Zumal ein heikler Punkt unter den Judasverehrern offen bleibt. Während der Evangelist Matthäus davon spricht, dass sich der Verräter vermutlich wegen schmerzender Gewissensbisse aufgehängt haben soll, endet das Judasevangelium ganz einfach beim Verrat. Keine Kreuzigung, kein Selbstmord.
Damit werden die beiden Judas-Parteien weiterhin genügend Argumente haben, um ihre eigene These bestätigt zu sehen: Die einen, weil sie sich auf den Selbstmord im Matthäusevangelium berufen und damit den Hinterhalt untermauert sehen; die anderen, weil sie anhand des Judasevangeliums behaupten, dass es diesen Selbstmord überhaupt nicht gegeben hat. Zumal ein Bericht darüber sogar in einigen biblischen Evangelien fehlt.

Michael Janke
Acher- und Bühler Bote vom 13.4.2006