Jesus - Revolutionär wider Willen

Der Namensgeber des Christentums wollte keine neue Religion stiften,
sondern lediglich das Judentum reformieren.

JESUS WAR NIE IN BETHLEHEM
"Richtig, auch nicht zu seiner Geburt." Jesus hat sich nie als Sohn Gottes bezeichnet. "Würde ich auch bejahen". Jesus wollte keine neue Religion stiften. "Mit Sicherheit nicht". Jesus war kein Revolutionär. "Auf keinen Fall!" Die klaren Absagen an gängige Klischees zu Jesus von Nazaret, aus dem später Jesus Christus (der Erlöser] wurde, stammen von Jens Schröter, Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Universität Leipzig. Der Institutsleiter setzt noch eins drauf: "Die Wirkung von Jesus in seiner Zeit und seiner Welt scheint eher gering gewesen zu sein".

Ist es dann überhaupt sinnvoll, nach dem historischen Jesus au suchen? Die Frage beantwortet Schröter vorbehaltlos mit "Ja". "Denn das Christentum ist eine geschichtlich begründete Religion. Sie geht auf das Wirken und das Schicksal einer Person zurück, die zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum gelebt hat". Deshalb, so Schröter, muss die christliche Theologie im Zeitalter historisch-kritischer Geschichtswissenschaft nach ihren Ursprüngen forschen. In der Tat ist Jesus kein nebulöser Mythos wie sonstige Ursprünge antiker Religionen, etwa Zeus, der als Baby vor seinem Söhne fressenden Vater verborgen werden musste, den er später entmannte. Jesus ist der historisch fassbare Ursprung einer Bewegung, die in 2000 Jahren von 12 Jüngern im Hinterland des Römischen Reichs auf 2,1 Milliarden Anhänger in der ganzen Welt anwuchs. Weil die Wissenschaft so wenig Konkretes vom historischen Menschen Jesus weiß, überschwemmen immer wieder schillernde Sumpfblüten in Buchform den Markt, die neueste trägt den Titel: "War Jesus Caesar?"
Damit wollen sich Schröter und seine Kollegen natürlich nicht abgeben. Aber selbstkritisch räumen sie ein, dass "man die Quellen unterschiedlich interpretieren kann". Und damit wird die Sache Jesu historisch spannend und wissenschaftlich strittig. Weitgehende Einigkeit herrscht zu diesen Daten: Jesus wurde zwischen 6 und 4 vor unserer Zeitrechnung geboren, zwischen 27 und 29 nach der Zeitenwende begann er sein Wirken als Wanderprediger in den ländlichen Gebieten Galiläas rund um den See Genezaret. Im Frühjahr 30 wurde Jesus in Jerusalem von den Römern hingerichtet. Das römische Imperium stand zu der Zeit auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung. Augustus, der erste Kaiser, hatte die Wirren des Bürgerkriegs nach Caesars Ermordung beendet, die Grenzen des Imperiums arrondiert und aus der Ziegelstadt Rom eine Marmorstadt gemacht. Seine Nachfolger ließen sich als göttlich verehren und stellten ihre Statuen in eigenen Kaiserkult-Tempeln auf. In Palästina herrschten einheimische Könige von Roms Gnaden, das jüdische Kernland Judäa mit Jerusalem gehörte dazu.

Jesus wuchs mit seinen Geschwistern in Nazaret, einer Kleinstadt in Galiläa auf, einer eigenständigen, landwirtschaftlich geprägten Region nördlich von Judäa. Er erlernte vermutlich den Beruf seines Vaters, eines Bauhandwerkers. Er stand fest im jüdischen Leben, besuchte die Synagoge und disputierte dort über die Thora, die traditionellen jüdischen Gesetze. Der gesamte östliche Mittelmeerraum war zu dieser Zeit in der Nachfolge des zerbrochenen Alexanderreichs hellenistisch geprägt. Griechisch war die überregionale Verkehrssprache. Die römische Hegemonie - mit ihren multi-ethnischen Soldatenscharen und der Herrschaftsideologie der "Pax romana" - forderte einen in diesem Umfang noch nie dagewesenen Austausch von Ideen, Kulten und Religionen. Der Himmel war überfüllt mit internationalen Göttern. Nur die Juden in Judäa, Samaria und Galiläa beharrten starrsinnig auf Jahwe, ihrem Einen Gott. Das wurde ihnen von den Römern als Sonderrecht neben der eigenen Tempelsteuer zunächst zugestanden - solange sie sich ansonsten konform verhielten.
DIE RÖMER GREIFEN DURCH
Nach Herodes, dem Großen (er ließ sieben seiner Söhne als Konkurrenten um die Macht ermorden), wurde Palästina unter den verbliebenen Söhnen aufgeteilt. Judäa wurde römische Provinz. Die Besatzer machten sofort deutlich, dass sie ihren Machtanspruch auch hier durchzusetzen gewillt waren. Und so prallten zwei ideologische Systeme aufeinander. Die Judäa-Juden bekamen die volle Härte der römischen Macht zu spüren: Die Statthalter wechselten ihre Hohepriester nach Belieben aus, forderten Steuern ein und versuchten mehrfach, das Kaiserbild zur Anbetung im Jerusalemer Tempel aufzustellen. Das war ein Frontalangriff auf das Selbstverständnis der Juden. Das Land war ihnen von ihrem Einen Gott gegeben und nur den durften sie anbeten, nur für diesen durften Steuern erhoben werden. Aus dem politischen wie religiösen Dilemma formierte sich bald gewaltsamer Widerstand. Die Sikarier, die mit Messern auf alles losgingen, was römisch oder sonstwie verdächtig aussah, kann man als Terroristen bezeichnen. Andererseits stürzte der Verlust der Eigenständigkeit die Juden in eine religiöse Sinnkrise. Das traditionelle Verhältnis von Volk und Gott trug nicht mehr.

Beide Situationen lieferten den Nährboden für Wanderprediger und Wirrköpfe, für Propheten und Phantasten. Einige kennt man namentlich - etwa Johannes, den Täufer -, viele blieben unbekannt. Nachhaltigen Erfolg hatte nur einer, wie sich erst viel später herausstellte; Jesus aus Nazaret. Er begann zwischen 27 und 29 unserer Zeitrechnung sein Lebenswerk auf Wanderungen durch Galiläa, dem nichtrömischen Teil des jüdischen Landes. Die Nachrichten über seine Wege, Wunder und Wirkungen stammen allesamt aus den neutestamentlichen Evangelien. Ein reales historisches Bild lässt sich nicht gewinnen, da es zu dieser Zeit keine außerchristlichen Quellen gibt. Jesus war außerhalb Galiläas und Judäas ein "Nobody".
GELD VON SYMPATHISANTEN
Die Berichte des Neuen Testaments besagen jedoch, dass er mit seinen Predigten viele Menschen ansprach. Sympathisanten unterstützten ihn mit Geld und Sachgaben. Dass auch Frauen zu den Anhängern gehörten, war ein Skandal. Dass er mit Zöllnern und Huren speiste, war ein noch größerer Aufreger. Doch einige Männer schlossen sich dem Wanderprediger an und zogen mit ihm - die Jünger Jesu. Jenseits der Erzählungen in den Evangelien, die man nicht als Geschichtsbuch lesen kann, erklären die Wissenschaftler den Erfolg des jüdischen Gurus mit zwei Aussagen, die Jesus von anderen Propheten unterschieden:
  • Er führte die jüdischen Heilserwartungen vom kommenden Reich Gottes auf Erden zum Endpunkt: Das Gottesreich bricht jetzt an.
  • Und es bricht mit seinem (Jesu) Wirken an. Gott offenbart sich darin selbst.
Mit diesem hohen Selbstanspruch als exklusiver Repräsentant Gottes schuf sich Jesus natürlich auch Feinde - vor allem unter den strenggläubigen Juden in den Schlüsselstellungen der judäischen Tempelhierarchie. Jesu Reise aus dem eher beschaulichen Galiläa ins brodelnde Jerusalem war demnach folgerichtig: Jerusalem und der Tempel bildeten auch nach dem Verlust der staatlichen Eigenständigkeit das unbestrittene Zentrum des jüdischen Volkes. Zum Peschachfest, einem wichtigen Wallfahrtstermin, strömten hier viele Gläubige zusammen - eine bessere Bühne konnte es für den Wanderprediger Jesus nicht geben. Doch der Unruhestifter musste den römischen Besatzern als massive Bedrohung der inneren Sicherheit erscheinen, denn bei seinem Einzug in Jerusalem wurde er als der ersehnte König aus dem Hause David bejubelt, der die Gottesherrschaft errichten werde. Dass die jüdischen Tempelherren diesen Jesus aus Nazaret ebenfalls als Störenfried einschätzten, vereinfachte die Sache: Man ließ prophylaktisch die ganze Härte des Gesetzes walten und schlug Jesus ans Kreuz als "König der Juden". "Wir müssen uns mit dem auseinandersetzen, was den historischen Jesus ausmacht", meint Peter Pilhofer, Leiter des Instituts für Neues Testament der Universität Erlangen-Nürnberg. "Das wird uns nicht immer begeistern, aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen". Die vielbeschworene und für das Christentum grundlegende Bergpredigt etwa stammt nicht aus dem Munde Jesu, sondern aus der Feder des Evangelisten Matthäus. "Die Suche nach dem Menschen Jesus war nicht immer angesagt. Auch in der Wissenschaft gibt es Moden", weiß Pilhofer. Zwischen den beiden Weltkriegen war es in der deutschen Theologie verpönt, sich mit dem historischen Jesus zu befassen. In den Fünfzigerjahren begann man danach zu fragen, in den Siebzigern schlug das Pendel wieder um. Seit den Neunzigerjahren beschäftigt sich die Forschung, initiiert von amerikanischen Wissenschaftlern, verstärkt mit dem menschlichen Ursprung des Christentums. Dabei kommt es immer wieder zu Streit unter den Bibel-Experten. "Die neue Richtung versucht, einen merkwürdig politisch-korrekten Jesus zu liefern", konstatiert Pilhofer. Der jüdisch-christliche Dialog solle nicht beeinträchtigt werden.
In der Tat postuliert Jürgen Roloff, emeritierter Professor für Neues Testament der Universität Erlangen-Nürnberg, in seinem Büchlein "Jesus" stellvertretend für andere: "Von einem grundlegenden Gegensatz zwischen Jesus und der Thora kann keine Rede sein. Die ethische Verkündigung Jesu ist vielmehr Auslegung, Vertiefung und Weiterentwicklung der Thora". Da erscheint Jesus geradezu als Mainstream-Jude. Jens Schröter sekundiert, leicht abgeschwächt: "Jesus Konflikte um das Gesetz kann man zum Großteil als innerjüdische Diskussion erklären". Da fragt Pilhofer spitz: "Wenn das so ist, warum konnte Jesus dann überhaupt mit den jüdischen Autoritäten in Konflikt geraten?" Nun wollte Jesus gewiss keine neue Religion stiften, sondern hat tatsächlich "sein Wirken als Erneuerung Israels betrachtet", meint Schröter. Auch gab es innerhalb des jesuszeitlichen Judentums unterschiedliche Auffassungen, wie strikt die tradierten mosaischen Gesetze einzuhalten seien. Doch wie mächtig die Thora mit ihren Vorschriften zu Beschneidung, Reinheitsgebot, Sabbat, Fasten und anderem ist, illustriert die Meldung, dass noch in den Neunzigerjahren in Israel die Leichname eingewanderter russischer Juden nachträglich beschnitten wurden.
WER WAR JESUS WIRKLICH?
Wenn man sich die überlieferten Aussprüche Jesu und sein Handeln anschaut, kann man Zweifel an der modernen Lehrmeinung bekommen: Jesus speist - unrein - mit Zöllnern und Heiden. Er fastet nicht. Jesus sagt: Der Sabbat ist für den Mensch da und nicht der Mensch für den Sabbat, und heilt am heiligen Ruhetag Aussätzige. Jesus konterkariert die Reinheitsbestimmungen radikal: "Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was ihn unrein macht" - etwa schlechtes Reden über andere, aber nicht Speise oder Trank.

Mit derlei Sentenzen aus der Überlieferung wehrt sich der streitbare Pilhofer gegen die Marginalisierung seiner wissenschaftlichen Meinung: "Es geht doch nicht darum, Jesus zu heroisieren als einsamen Kämpfer wie John Wayne, der allen zeigt, wo's lang geht". Aber man dürfe die spärlichen Quellen auch nicht gewaltsam glatt schleifen, um eine Jesusfigur zu erzielen, die sich vom Judentum nicht unterscheide. Jens Schröter, obwohl anderer Meinung, stellt klar: "Unsere Bilder, die wir von Jesus entwerfen, werden niemals identisch sein mit dieser Person, die da im ersten Jahrhundert gelebt und gewirkt hat".
Michael Zick, Zeitschrift "bild der wissenschaft", Dezember 2008