Das letzte Buch der Bibel

Die Offenbarung des Johannes

"Das letzte Buch der Bibel", wie man die Offenbarung des Johannes nennt, hat auch heute eine aktuelle Botschaft, die unzählige Menschen interessiert. Neben den Psalmen und dem Römerbrief hat gerade dieses "letzte Buch" unendlich viel Einfluß ausgeübt, obwohl es stets gegensätzlicher Beurteilung ausgesetzt war.
Die "Abendschau" der Weltgeschichte Die Offenbarung hat ein dauerndes Für und Wider erfahren. Ein Christ, der in der Bibel "das Lagerbuch der Gemeinde Gottes von Anbeginn der Welt bis ans Ende" (so der Theologe Bengel) sieht, muß sich darüber klar werden, wie er mit diesem Buch umgehen will.
Um Zugang zu gewinnen, ist es wichtig, das Buch im Zusammenhang zu lesen. Es reicht nicht, sich mit ausgewählten Abschnitten zu begnügen. Man muß aufmerksam den weitgespannten großen Bildern und Konzeptionen folgen, um das eigentliche Zeugnis der Offenbarung zu verstehen. Beschrieben wird der Ablauf der letzten Dinge, von der Auferstehung und Erhöhung Christi bis zu seiner Wiederkunft und der Aufrichtung seiner Herrschaft über alle Welt. Es ist "die große Abendschau der Weltgeschichte" und die Proklamation von Gottes neuer Welt. "In diesem Buch enthüllt Jesus Christus Gottes Geheimnisse und Pläne, damit seine Diener wissen, was bald geschehen wird", lautet der erste Satz (Kap. 1).
Die Offenbarung ist ein gewaltiges Zeugnis des prophetischen Geistes, der im Neuen Testament zu Worte kommt. Es wird bezeugt, was Gott gesagt und Jesus dem Seher Johannes gezeigt hat. Was er sah und hörte, ist aber nicht bloß Weissagung von einer fernen Zukunft. Vielmehr zeigt sich hier, was allezeit mit der Menschheit geschieht, wenn das Ewige in sie einbricht. Wir heutigen Menschen müssen hier schwer buchstabieren. Doch es lohnt sich. Heißt es doch gleich am Anfang: "Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe." (Kap. 1,3). Prophetischer Geist und Worte der Weissagung
Was ist nun aber die Offenbarung? Welche Botschaften enthält sie und was hat sie uns h e u t e zu sagen? Aus der Fülle der Aussagen sollen zunächst drei genannt werden.
1. Ein Trostbuch für die angefochtene Gemeinde Geschrieben wurde die Offenbarung in politisch bewegter Zeit. Im römischen Reich regierte Kaiser Domitian. Es herrschte ein ausgebildeter Kaiserkult, dem sich Christen verweigerten, denn Christus war ihr Kyrios (Herr). Die Gemeinden in Kleinasien wurden verfolgt, Johannes auf die Insel Patmos verbannt. In der Abgeschiedenheit dort nimmt er Visionen wahr, hört die Stimme des Himmels, empfängt Weissagungen.
An einem Sonntag, als er mit den Gemeinden in Anbetung und Fürbitte verbunden war, wurde Johannes vom Geist Gottes ergriffen. Er sah und hörte, was über die Bühne der Geschichte von Christus gedacht und vorbereitet wurde. Wohl in einem längeren Prozeß schreibt er dies auf oder diktiert es. Dabei fließen ihm viele Verse aus dem Alten Testament in die Feder. Der Seher Johannes spricht von der Macht des Lammes, vom Gericht, von drohenden Tieren und den Zornesschalen, von Kriegsstimmung, die erschrecken läßt, und Angst macht. Gesprochen wird von Anfechtungen und Leiden, von Verfolgungen, die im Blick auf die jüngere Geschichte sichtbar und gegenwärtig in einigen islamischen Ländern real sind.
Man fragt sich: Wie ist das durchzuhalten, wenn dies erst der Anfang ist? Dieses "letzte Buch" der Bibel, das wie kein anderes das Grauen der Endzeit schildert, weiß auch wie kein anderes Buch zu trösten. Es geschieht nicht mit einem harmlosen lyrischen Zuspruch. Es ist ein Trost im Blick auf Gottes Sache und in der Gewißheit: Gott kommt zum Ziel. So schreibt ein Ausleger: "Gott wird siegen! Es mag sein, daß dieser Sieg Gottes für menschliches Denken lange auf sich warten läßt - aber Gott wird siegen! Es mag sein, daß der Endkampf der Geschichte von vielen Jüngern Jesu das Blutzeugnis des eigenen Märtyrertodes verlangt - aber Gott wird siegen! Er hat die Zeiten dieses Kampfes festgesetzt und alle seine Tage gezählt." Gott führt zum Ziel
Eingehüllt in diesen starken Trost kann die Gemeinde Jesu auch heute ihren Weg zuversichtlich, gehen. Sicher nicht im Vertrauen auf die eigene Stärke, aber im Blick auf den wiederkommenden Herrn und der Gewißheit seines Sieges. Er spricht das erste und das letzte Wort im Leben eines jeden einzelnen und in der Weltgeschichte. "Ich bin das A und 0, spricht der Herr, der da ist, und der da war, und der da kommt, der Allmächtige." (Off. 1,8). - Unter diesem ermutigenden Vorzeichen kann auch die zweite Botschaft gehört und verstanden werden.
2. Biblisches Zeugnis vom Grauen der Geschichte und von Gottes neuer Welt In der Abgeschiedenheit empfängt Johannes die Weissagungen. Endzeitliches Geschehen wird anschaulich und doch schwer verständlich beschrieben. So gebraucht die Offenbarung viele Bilder und Zahlen, sie spricht von drohenden Tieren und den Zornesschalen, von Kriegen. Auch die Öffnung der sieben Siegel ist eine Szene voller Dramatik.
Die apokalyptischen Reiter sind dabei nicht als körperliche Wesen aufzufassen: Sie haben es mit jenem Kampf zwischen Gut und Böse zu tun, der die Weltgeschichte durchzieht und dem das Buch einen beklemmenden Ausdruck gibt. Sie sind im Zeitgeschehen selbst begründet und reiten immer wieder durch die Welt, so oft sich die Ereignisse zusammenballen und einen bedrohlichen Charakter annehmen. Auch die Weissagung vom Tausendjährigen Reich ist mächtig geschaut und setzt beim Lesen die Phantasie in Bewegung. Große Hoffnungen hat sie bei vielen Christen geweckt. Die biblischen Bücher kennen den modernen Geschichtsbegriff nicht, doch lesen wir in ihnen entscheidende Beiträge. Schon im Alten Testament wird über den Verlauf der Geschichte geschrieben. Die Propheten und das Gottesvolk haben gewußt, daß die Welt einen Schöpfer hat - und darum die Geschichte auch einen Herrn. Christen glauben um so fester an ihn, als sie die Menschwerdung von Jesus Christus als göttliches Faktum vor Augen haben. Mit seiner Wiederkunft am Ende der Zeit ist die Frage nach dem Ende der Geschichte in seiner ganzen Tragweite angesprochen. Wissend um menschliche Erfolge und Mißerfolge in der Geschichte, wissend um ihre Vergänglichkeit, bekennt christlicher Glaube, dass Gott ein Neues schaffen wird.
Nach 20 Kapiteln mit schrecklichen Bildern von Kampf und Zerstörung, von Rebellion gegen Gott und seinem antwortenden Gericht kommt das "Ende des Tunnels": Jetzt wird endlich die Sicht frei auf Gottes neue Welt und auf die neue Stadt Jerusalem. Die Wehen der Endzeit liegen hinter uns, die "Geburtsschmerzen" der neuen Welt. Alles drängt nun darauf hin, daß Gott dieses Schlußwort "Siehe, ich mache alles neu!" (Kap. 21,5) sprach. Es ist derselbe Gott, der die Schöpfung begann mit dem Machtwort "Es werde Licht!" (l. Mose, 1,3) und der in der Mitte der Zeit die Versöhnung vollendete mit dem letzten Wort des menschgewordenen Christus "Es ist vollbracht" (Job. 19,30). Gottes neue Welt
Wir dürfen Gottes Machtwort am Ende nicht von seinem Heilswort in der Mitte und von seinem Schöpfungswort am Anfang der Geschichte trennen. "Siehe, ich mache alles neu!" Auf diese General-Erneuerung läuft alles zu. Bis dahin hat sich die Gemeinde Jesu in dieser Welt durch ihr Zeugnis von der Liebe Gottes zu bewähren: in ihrer Verkündigung, im diakonischem Dienst und in der Anbetung. Die Botschaft der sieben Sendschreiben ist dabei hilfreich. Ist doch der mehrfache Aufruf unüberhörbar: "Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!" (Kp. 2, Vers 7).
3. Bußruf an die Gemeinden Die Empfänger der sieben Sendschreiben sind frühe christliche Gemeinden in Kleinasien, im westlichen Teil der heutigen Türkei gelegen. Die Christen waren eine Minderheit inmitten einer heidnischen Umgebung mit einer großen Ausstrahlungskraft. Nach einiger Zeit ließ diese nach, Verfolgungen nahmen zu. So meldet sich der erhöhte Christus, der Herr seiner Gemeinde, zu Wort. Der Seher Johannes hat die Botschaft auszurichten, ruft zu neuem Hören, zur Besinnung, zur Umkehr.
Seit der Abfassung der Sendschreiben sind nunmehr 1900 Jahre vergangen. Doch an Aktualität haben sie nichts eingebüßt. Vielleicht bedarf es zuerst der Erkenntnis der geistlichen Notlage, einer inneren oder äußeren Bedrängnis, in der die Botschaft dieser Schreiben neu ausgelegt und richtig verstanden wird. Auf der ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirchen im Mai 1934 bekannten sich in Wuppertal evangelische Christen gemeinsam zur "Theologischen Erklärung von Barmen". Sie sahen in ihr ein Zeichen der gnädigen Heimsuchung Gottes. Während der Synodaltagung versammelten sich viele Glieder der Wuppertaler Gemeinden zur Besinnung auf Gottes Ruf und Auftrag unter seinem Wort. Unter dem Thema "Die Kirche vor ihrem Richter" legten Synodalteilnehmer die Sendschreiben der Offenbarung aus.
Seither hat sich unter den Schlägen des Gerichtes mit dem verlorenen Krieg, aber auch unter Gottes Geduld mit unserer friedlosen Welt und den vielen Möglichkeiten der Lebensgestaltung in unserer Zeit die Lage der Kirche und ihrer Gemeinden Wesentlich verändert. Doch die Situation insgesamt ist nicht besser geworden, eher kritischer und gefährlicher. Viele Menschen stehen in der Gefahr, den Heilsweg zu verfehlen, und müssen wachgerüttelt werden. Deshalb sind die Hinweise auf das Gerichtshandeln Gottes und die Aufrufe zur Buße, wie Sie in der Offenbarung zu finden sind, als Botschaft für die Menschen unserer Zeit von größter Bedeutung. An dieser Botschaft, welche die Notwendigkeit einer Umkehr überdeuthch als Menetekel an die Wand malt, kann niemand vorbeigehen. Wer es dennoch tut und zur Tagesordnung übergeht, wird die Konsequenzen zu tragen haben. Wer die Botschaft aber beherzigt, wird auch die Botschaft des Zuspruchs und des Trostes erfahren. Denn der ewige, der wiederkommende Herr, will uns auch heute nicht nur mit seinem souveränen Anspruch, sondern auch mit seinem Zuspruch und mit der Kraft begegnen, die dem verheißen ist, der den Heilsweg, den Weg der Umkehr, des Trostes und der Heiligung beschreitet.
So verstehen wir, daß die Botschaften, die dieses Buch verkündet, nicht ferne Spekulationen sind, sondern eine Kraft für heute. In Zeiten, als diese Hoffnung in der Kirche erlahmte, verfiel sie in Müdigkeit; ihre Ausstrahlungskraft ließ nach. Die Blütezeiten der Kirche waren immer auch Zeiten eines lebendigen Glaubens an die Wiederkunft Christi. Er ist die Frucht des Glaubens an den auferstandenen Herrn Jesus Christus.
Pfarrer Reiner Lichdi